Wenn der Vater gegen den Sohn

Söhne bringen es im Metier des Vaters oft weiter als dieser. Bei W. A. Mozart weiß die Welt: Das Genie war Kind eines guten Handwerkers. Bei Erich Kleiber, der an Mozarts 200. Geburtstag gestorben ist, spricht die Welt von einem ähnlichen Fall. Feuilletonistische Variationen über Walzer- und andere Könige.

Es war der 27. Jänner 1956. Die Musikwelt zelebrierte einen Gedenktag. Vor genau 200 Jahren war Wolfgang Amadeus Mozart geboren worden. Der geniale Sohn eines international renommierten Musiker-Vaters. An diesem Tag fand man in einem Zürcher Hotelzimmer den Dirigenten Erich Kleiber. Er lag tot in der Badewanne. Herzinfarkt, lautete die Diagnose. Aussagen seines Sohnes Carlos, dessen Berühmtheit jene des Vaters – wie bei den Mozarts – enorm überflügeln sollte, nährten später die Gerüchte . . .

Ob Erich Kleiber Selbstmord begangen hat, wird man nicht mehr ermitteln können. Jedenfalls ist er in die Interpretationsgeschichte als Vater eingegangen, der es nicht gern gesehen hat, dass der Sohn in seine Fußstapfen treten wollte.


Immer an vorderster Stelle. Obwohl: Auch das stimmt nur bedingt. Wie man bei näherer Betrachtung das Gefühl bekommt, dass in Sachen Erich Kleiber vieles nur bedingt zu stimmen scheint. Jedenfalls: Er war nicht „nur“ der Vater des elektrisierenden Carlos Kleiber. Wer die heute so beliebten „Charts“ studiert, wird beim „Rosenkavalier“ wie bei „Figaros Hochzeit“ stets die Aufnahmen von Erich Kleiber an vorderster Stelle finden.

Mit den Wiener Philharmonikern ist der Dirigent Anfang der Fünfzigerjahre ins Decca-Studio gegangen und hat die beiden Standardwerke des Repertoires mit den damals luxuriösesten Sängerbesetzungen völlig neu erarbeitet. Die Frische ist – mono oder stereo, analog oder digital – nicht verloren gegangen. Schon die Tempodramaturgie des „alten Kleiber“ im Fall des heiklen zweiten „Figaro“-Finales ist von einzigartiger Stringenz. Und was die Detailverliebtheit im „Rosenkavalier“ betrifft, kann man hören, woher die so oft als singulär gerühmte dramaturgische Klangfinesse des Sohns stammt, der ja die Partituren seines Vaters wie Heiligtümer studiert haben soll . . .

„Figaro“ und „Rosenkavalier“, man bedenke: Beide Stücke kennen die Philharmoniker wie ihre Westentasche. Und spielen doch solche von allen Schlampereien des Tagesbetriebs gereinigte, minuziös durchgearbeitete, aber spritzig-theatralische Aufnahmen ein. Zu solcher Form, denkt man, läuft ein Kollektiv nur auf, wenn es den Mann am Dirigentenpult wirklich adoriert. Aber es stimmt ja, wie gesagt, alles nur bedingt. Erich Kleiber, der als Wiener (geboren vis-à-vis des Sterbehauses von Franz Schubert) für sein Leben gern Direktor der Wiener Staatsoper geworden wäre, bot man nicht einmal ein ordentliches „Philharmonisches“ Abonnementkonzert an.

Ja, aber – ließe sich nun entgegen: Die Philharmoniker, die unter seiner Leitung schon in den Zwanzigerjahren Musik von Johann Strauß auf Schellack gebannt haben – und zwar auf höchst exzentrische, virtuos-verrückte Weise (man hört, aus welchen Quellen sich die legendäre „Fledermaus“-Leichtigkeit des Carlos Kleiber gespeist hat) –, diese Philharmoniker also boten Kleiber, als Clemens Krauss 1954 starb, die Leitung des Neujahrskonzerts 1955 an! Dieser überlegte kurz – und lehnte dann ab . . .

Wusste er, dass sein Name damals auf der schwarzen Liste des österreichischen Rundfunks stand? Der Uraufführungsdirigent des „Wozzeck“ und Freund Alban Bergs, der Vorkämpfer für die Moderne, der 1934 aus Protest gegen die NS-Kulturpolitik Deutschland verlassen hatte – seine Aufnahmen durften nicht gesendet werden! Vielleicht, weil er nach 1945 im „realsozialistischen“ Ost-Berlin, wenn auch vergeblich, versucht hatte, an einstige Erfolge anzuknüpfen?


Nein zum Neujahrskonzert. Vielleicht hatte die unerwartete Absage des Neujahrskonzerts auch damit zu tun, dass man die Staatsoper nicht ihm, sondern Karl Böhm überlassen hatte? „Vor allem müsste ich die philharmonischen Konzerte leiten“, so hatte Erich Kleiber an Alma Mahler geschrieben. Das war nicht 1954, sondern dreißig Jahre früher! Schon damals wäre die Staatsoper das Ziel gewesen. Mit den Philharmonikern gab es immer nur „außerordentliche“ Kleiber-Konzerte; und wirklich außerordentliche Schallplattenaufnahmen folgten; aber keine realen Taten.

Ob Erich seinem Sohn ein solch verqueres Schicksal ersparen wollte? Als Carlos beschloss, lieber zu dirigieren als Chemie zu studieren, soll Erich getobt haben. Andererseits: Als Karl Keller (so das Pseudonym) in Potsdam mit „Gasparone“ debütierte, besuchte der Papa inkognito eine Vorstellung und meinte unter Tränen: „Er kann's.“


Nie wieder Strauß Vater! Ein anderer großer Kapellmeister-Vater (Erich Kleiber war übrigens wie fast alle bedeutenden Dirigenten seiner Ära auch Komponist!) hat das von seinem Sprössling nicht gesagt. Obwohl der's auch konnte. Am 15. Oktober 1844 bat man in Dommayer's Casino in Hietzing zur „Soirée dansante“. Johann Strauß war annonciert, „Sohn“ stand in Klammern darunter.

Einer der – später drei! – Walzerprinzen trat, gerade 19-jährig, trotz dessen erbitterten Widerstands gegen den regierenden König an. Nie wieder würde er bei Dommayer spielen, schnaubte Johann Strauß, der nicht der Senior werden, sondern der Einzige bleiben wollte.

In den Augen der Nachwelt hat es der Junior verstanden, den Ruhm des alten Strauß mehr oder weniger auf den „Radetzkymarsch“ zu reduzieren. Dieser bildet zwar Jahr für Jahr am 1. Jänner den Ausklang des meistgesehenen Fernsehkonzerts der Welt. Aber sonst: Walzerkönig ist der, der den „Donauwalzer“ geschrieben hat.

Auch bei den „Sträußen“ stimmen solche Werturteile aber nur bedingt. Strauß Vater war nicht nur der Begründer einer Komponistendynastie. Er war, das eint ihn mit Erich Kleiber, ein fanatischer Orchestererzieher und damit eigentlich der Erfinder der großen Wiener Orchestertradition. Denn es war nicht das philharmonische Opernorchester, das damals für Konzertauftritte noch gar nicht „organisiert“ war. Es war die Kapelle von Strauß Vater, vor der sich sogar die anspruchsvollen Meister der musikalischen Avantgarde jener Zeit, Berlioz und Wagner, verneigten. Der Bayreuther erinnert sich später an den „zauberischen Vorgeiger“, der die Begeisterung der Wiener „auf eine für mich beängstigende Höhe“ zu treiben verstand.

Die eminente Qualität des Strauß'schen Orchesters führte dazu, dass man die Musiker in halb Europa hören wollte. Die Tournee war erfunden! Allenthalben bewunderte man die Perfektion des Ensembles. Dass ein Mann am Pult (bald nicht mehr mit der Geige in der Hand) den Ton angab, war in der Ära der beiden Kleibers dann bereits selbstverständlich.

Noch ein paar Generationen zurück: Was natürliche Autorität, geboren aus eminentem Können, bedeutet, haben die Söhne Johann Sebastian Bachs in der Kinderstube erfahren. Sie gingen bestens geschult, gedrillt, möchte man sagen, in die Welt. Gleich drei von ihnen wurden bedeutende Komponisten: Wilhelm Friedemann, dessen persönliche Exzentrik ihm eine große Karriere unmöglich gemacht hat, Carl Philipp Emanuel, ohne dessen empfindsame Klavier-Piecen Beethovens revolutionäre Subjektivität undenkbar wäre, und Johann Christian, an dem Mozart verehrungsvoll Maß zu nehmen versuchte.


Dem Genie die Spur gewiesen. Apropos Mozart: Was macht man als Vater, wenn man – wie Niklaus Harnoncourt das formuliert hat – vor einem Krokodil sitzt? Wie geht man mit einem Kind um, das in Talent geradezu zu ertrinken droht?

Wahrscheinlich hat Leopold Mozart, der exzellente Kapellmeister des Salzburgischen Fürsterzbischofs, genau das Richtige getan: Er hat seinem Wolfgang Amadé eine solide Bildung angedeihen lassen und die Musizierwut, so gut es gegangen ist, in geregelte Bahnen gelenkt. Der Sprössling sollte die Gesetze verstehen lernen, ehe er sie mit genialer Pranke durchbrechen würde.

In diesem Fall begriffen schon die Zeitgenossen, dass der Sohn den Vater rasch überflügelt hatte. Andererseits dauerte es bei den „Bächen“ mehr als ein Jahrhundert, ehe die Musikgeschichtsschreibung dem Stammvater ein Podest über den bedeutenden Söhnen zuwies. Im Fall des hoch begabten Siegfried Wagner war es hingegen nie eine Frage, dass schon der Schatten von Vater Richard genügte, dem Sohn jegliche Aufstiegschance zu verdunkeln.


Vorsicht vor den Kindern. „Wenn der so weitermacht, können wir alle einpacken“, urteilte Richard Strauss über einen Kinderstar, der Anfang des 20. Jahrhunderts groß herauskam und dem die Zeitläufte dann ein (allerdings wohldotiertes) Komponisten- und Kapellmeister-Schicksal beim Film bescheren sollten: Erich Wolfgang Korngold, der im Teenager-Alter als virtuoser Symphoniker und Opernkomponist begann, war allerdings kein Komponisten- oder Dirigentenabkömmling, sondern der Sohn von Julius Korngold, dem Musikkritiker der „Neuen Freien Presse“ . . .

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.01.2016)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.