Herrn Mairs Gespür für Schnee

Rudi Mair ist Tirols oberster Lawinenwarner. Seine Einschätzung ist lebenswichtig für Sportler und Anrainer.

Er lebt nicht nur vom Schnee, er liebt ihn. Rudi Mair, der Mittfünfziger aus dem Stubaital leitet Tirols Lawinenwarndienst. Im Winter ist er täglich im Einsatz. Von fünf Uhr Früh bis oft spät abends um elf Uhr. „Ein gewisser Fanatismus gehört schon dazu“, sagt er grinsend. „Für jemanden, der einen Acht-Stunden-Tag braucht, wäre dieser Beruf nicht das Richtige.“ Der Arbeitstag beginnt damit, die Daten der Wetterstationen abzurufen. Mit 170 hochalpinen Stationen verfügt Tirol über das dichteste Messnetz weltweit. Schneeprofile, Einschätzungen von lokalen Lawinenbeobachtern und Wettervorhersagen ergänzen die Informationsflut, aus der Mair mit seinem Kollegen Patrick Nairz einen Lawinenlagebericht filtern muss.

Die Verantwortung ist groß. Es geht nicht nur sprichwörtlich um Leben und Tod: Auf die Einschätzung des Lawinenwarndienstes verlassen sich Wintersportler ebenso wie Lawinenkommissionen und Bewohner gefährdeter Orte in den Tälern. „Jeder kann einmal einen Fehler machen, aber ich muss tun, was menschenmöglich ist und was von einer Person in meiner Position erwartet werden kann“, sagt Mair. Dass das viel ist, wird auch angesichts seiner langen Tätigkeit klar. Er macht diese Arbeit nun schon seit 26 Jahren.

Mairs Erfahrungsschatz ist einer der wesentlichen Faktoren. Die Messstationen liefern zwar jede Menge Daten und die Computermodelle berechnen allerhand. Doch letztlich ist es der Mensch, der die Mosaiksteine zusammenfügen muss. „Mit all unserer Technik und Wissenschaft erreichen wir keine zu 100 Prozent sichere Vorhersage. Die Kunst ist es zu schauen, wie man damit umgeht“, erzählt Mair. Sein Gespür für Schnee und sein Wissen über die lokalen Besonderheiten sind ausschlaggebend für die Qualität der Lawinenwarnungen: „Müsste ich plötzlich einen Lawinenbericht für Norwegen machen, würde ich mir ganz schön schwertun. Du musst das Land kennen.“

Im Sommer hat Rudi Mair früher viele Erkundungstouren zu Fuß gemacht. Quer durch Tirol. Ist etwa vom Zillertal ins Alpbachtal, die Wildschönau und die Kelchsau gewandert. Dass das nicht nur Pflicht, sondern auch Vergnügen war, ist offensichtlich: Der athletische Mann ist ein Bergmensch durch und durch. Klettern, Skifahren, Skitouren haben ihn schon immer nach draußen gezogen. Mit 19 Jahren stürzte er in eine Gletscherspalte am Schwarzenberg-Ferner in den Stubaier Alpen. Zwölf Stunden lang musste er in 15 Metern Tiefe auf Rettung warten. „Damals habe ich einen Deal mit dem Schicksal gemacht“: Er habe entschieden, künftig das zu tun, was ihm Spaß mache. Er hängte sein Medizinstudium an den Nagel, sattelte auf Meteorologie und Glaziologie um. In der Diplomarbeit befasste er sich mit Gletscherspalten.


Eineinhalb Jahre in der Antarktis. Bevor er als Lawinenwarner begann, war Mair auf noch kälterem Terrain tätig: Er arbeitete eineinhalb Jahre in der Georg-von-Neumayer-Forschungsstation in der Antarktis. Die Erfahrung möchte er nicht missen, wiederholen will er sie freilich nicht. Drei bis vier Monate ohne Sonne, Leben auf engstem Raum, Temperaturen bis minus 50 Grad fordern sehr. Ob es ihm hierzulande jemals noch kalt vorkomme? „Nein“, sagt er lachend, „ich bin überhaupt ein Frigophiler.“

Dass er seine Liebe zur Kälte so benennt, hat mit seiner Erziehung zu tun: Im humanistischen Gymnasium erlernte er mit Begeisterung Latein und Altgriechisch. Wie zum Beweis zieht er ein zerlesenes Exemplar der Homer'schen „Odyssee“ hervor, trägt die Stelle über die Ermordung der untreuen Mägde durch Odysseus vor. „Das ist nach wie vor meine Leidenschaft“, sagt Mair, „ich war halt noch ein Klassischer und habe mich nicht nur mit Naturwissenschaften befasst. Darüber bin ich froh.“

Kälte scheint ihm nichts anzuhaben: Beim Sturz in die Gletscherspalte verlor Mair damals Mütze und Handschuhe, hatte aber keinerlei Erfrierungen. „Ich bin früher im Winter immer ohne Handschuhe klettern gegangen, bei Skitouren brauche ich sie auch heute nicht.“ Kälte, Schnee sind seine Elemente. „Zum Schnee habe ich eine sehr enge Verbindung.“ Drei bis vier Mal in der Woche sei er im Gelände unterwegs. Wie viele Worte er für den Schnee hat? „Viele. Vor allem der Dialekt kennt weit mehr Ausdrücke für Schnee als das Hochdeutsche. Rufele zum Beispiel – so sagt man im Stubaital zu ein, zwei Zentimetern Schnee, wenn der gerade den Boden bedeckt.“ Zu wenig für eine richtige Lawine jedenfalls.

Buchtipp: „Lawine. Die 10 entscheidenden Gefahrenmuster erkennen“; Rudi Mair und Patrick Nairz (Tyrolia); www.lawine.at/tirol

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.01.2016)

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