Über das Doppelspiel von Russland und Syriens Machthaber Assad herrscht Empörung, zumal eine humanitäre Katastrophe befürchtet wird. Allein in zwei Tagen flog die russische Luftwaffe über 320 Einsätze.
Kairo/Damaskus. Die verheerenden russischen Luftangriffe und die Offensive der syrischen Armee um Aleppo haben scharfe internationale Reaktionen und ein Rätselraten über die Motive von Präsident Wladimir Putin ausgelöst. Mehr als 70.000 Syrer sind am Wochenende Hals über Kopf aus dem verwüsteten Ostteil der Metropole geflohen, die seit drei Jahren von Rebellen gehalten wird. Zehntausende harren am Grenzübergang zur Türkei aus.
Beobachtern zufolge flog die russische Luftwaffe allein in zwei Tagen mehr als 320 Einsätze, denen die Zivilbevölkerung und die Rebellen hilflos ausgesetzt sind. „Gegen die russischen Jets haben wir keine Chance“, erklärte einer der Kommandeure in Aleppo. „Wir brauchen so schnell wie möglich Flugabwehrraketen.“ Diese Waffen jedoch halten ihre Unterstützer Saudiarabien, Türkei und Katar auf amerikanischen Druck nach wie vor zurück. Washington fürchtet, solche Geschosse könnten auch in die Hände des sogenannten Islamischen Staates (IS) geraten und dann gegen hochfliegende Passagierflugzeuge eingesetzt werden.
Die syrische Armee wird bei ihrem Vormarsch nach Berichten der libanesischen Zeitung „Al-Nahar“ zudem unterstützt von Einheiten der libanesischen Hisbollah, schiitischen Milizen aus dem Irak sowie den Al-Quds-Brigaden der iranischen Revolutionären Garden. An den Operationen beteiligt sein sollen auch russische Spezialkräfte sowie moderne T-90-Panzer, gegen die die TOW-Abwehrraketen der Assad-Gegner bisher wenig ausrichten.
Lawrow trifft Kerry in München
Die Rebellen in Aleppo stemmen sich den Angreifern entgegen. „Wir schlagen unsere bisher wichtigste Schlacht“, zitierte die „Washington Post“ einen Sprecher der Aufständischen. „Die Gefechte in den kommenden Tagen werden sehr erbittert werden. Wir werden kämpfen bis zum letzten Mann. Und wir hoffen, dass wir unsere Landsleute nicht im Stich lassen.“ Ihre Ausgangslage ist schwierig: „Die Opposition verliert mittlerweile Minute für Minute an Boden. Wir stehen vor einem humanitären Albtraum“, erklärte Rae McGrath, der Chef von Mercy Corps, einer in Nordsyrien und der Türkei aktiven amerikanischen Hilfsorganisation. „Sehr viele Menschen machen sich auf den Weg, dies ist ohne Zweifel die schlimmste Situation seit Beginn des Krieges.“
UN-Generalsekretär Ban Ki-moon warf dem Kreml vor, mit seinem Vorgehen auf dem Schlachtfeld die Verhandlungen in Genf zum Einsturz gebracht zu haben sowie die UN-Resolution für den internationalen Friedensplan in Syrien zu ignorieren. Erst im Dezember hatte der UN-Sicherheitsrat mit ausdrücklicher Zustimmung von Russland und China gefordert, die Bombardierung von Zivilisten müsse gestoppt werden.
US-Außenminister John Kerry erklärte unterdessen, er habe eine „sehr robuste“ Unterredung mit seinem russischen Amtskollegen Sergej Lawrow geführt. Die Gespräche würden am kommenden Donnerstag in München fortgesetzt werden, beim vierten Treffen der internationalen Syrien-Gruppe sowie bei der anschließenden Sicherheitskonferenz, an der neben Kerry und Lawrow auch der iranische Außenminister Mohammad Javad Zarif teilnehmen soll. (m.g.)
("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.02.2016)