Warum vertragen Kinder Drehbewegungen besser?

Das Gleichgewichtssystem bildet sich nach und nach aus, das macht weniger empfindlich. Vor Seekrankheit sind aber auch die Kleinen nicht gefeit.

Wenn Kinder auf dem Ringelspiel toben oder wild schaukeln, wird Erwachsenen oft schon vom Zusehen fast schlecht. Dass Kinder Dreh- und Schwingbewegungen besser aushalten, gilt als erwiesen. Warum das so ist, ist aber nicht restlos erforscht. Forscher vermuten, dass der Gleichgewichtssinn noch nicht fertig entwickelt ist und ihnen dadurch weniger leicht schwindlig oder übel wird.

„Der Gleichgewichtssinn braucht Informationen der Augen, des Gleichgewichtsorgans im Innenohr sowie von Muskel-, Sehnen- und Gelenkrezeptoren. Diese Sinnesreize laufen im Gehirn zusammen und werden dort verarbeitet“, sagt Erich Vyskocil von der Wiener Uni-Klinik für Hals-, Nasen- und Ohrenkrankheiten. Widersprechen einander die Informationen dieser drei „Meldestellen“ des Körpers, erzeugt das im Hirnstamm ein Fehlersignal: Das Auge sieht etwa im Karussell nicht mehr, was Innenohr und Rezeptoren im Körper wahrnehmen.

Schaukeln ausdrücklich erlaubt

Bei Kindern ist die Entwicklung des Gleichgewichtssystems noch nicht abgeschlossen. Für sie sind vor allem Informationen aus Muskel-, Sehnen- und Gelenkrezeptoren, den sogenannten Propriozeptoren, wichtig. Diese sitzen im Inneren des Körpers und melden dem Gehirn ständig die Position im Raum. Der Einfluss von Augen und Ohren ist jedoch geringer ausgeprägt als bei Erwachsenen. Dadurch fühlen sich Kinder in einem Karussell wohl.

Erst bei jungen Erwachsenen ab dem 15. oder 16. Lebensjahr sind der Sehsinn und der Gleichgewichtssinn des Innenohrs – eines der entwicklungsgeschichtlich ältesten Rezeptorsysteme – fertig ausgebildet. „Durch diese Sinne kann der Mensch erst aufrecht gehen“, erklärt der Mediziner.
Überhaupt seien Drehen, Schaukeln und Wippen wichtig für die körperliche und geistige Entwicklung: Sich diesen Situationen auszusetzen regt das Gleichgewichtsorgan an, trainiert es. Kinder lernen so Bewegungskoordination und entwickeln ein positives Körpergefühl. Studien zeigen, dass sich Kinder mit gutem Gleichgewichtssinn auch besser konzentrieren können.

Warum aber wird Kindern beim Autofahren dennoch übel? Auch sie sind vor einer sogenannten Kinetose, also der Reise- oder Seekrankheit, nicht gefeit. „Im Vergleich zum gleichmäßigen Drehen oder rhythmischen Schwingen auf dem Spielplatz sind Boot- oder Busfahren sehr komplexe Bewegungsmuster, die zu einer Reihe von Fehlersignalen über eine längere Dauer führen“, so Vyskocil.

Aber auch Erwachsene setzen sich gern den Reizen, die Beschleunigungs- und Drehbewegungen erzeugen, aus – nicht nur im Prater. „Gleichmäßiges Wippen in einem Schaukelstuhl oder das Schwingen einer Hängematte empfinden wir als angenehm. Offenbar wirkt das für das Gleichgewichtsorgan im Innenohr wie eine schöne Melodie für das Ohr“, sagt Vyskocil.

Für Beschwerden gibt es im AKH eine eigene Schwindelambulanz. „Nach Rücken- und Kopfschmerzen ist Schwindel die dritthäufigste Ursache, warum Menschen zum Arzt gehen“, sagt Vyskocil. „In etwa 40 Prozent der Fälle ist die Ursache für Schwindel im Ohr zu finden.“ Seine Forschungsschwerpunkte sind Gleichgewichtsforschung sowie implantierbare Hörgeräte. Ihn interessiert etwa, wie Eingriffe am Gleichgewichtsorgan die Lebensqualität von Patienten verändern, ob ihnen alltägliche Erledigungen wie einkaufen wieder leichter fallen.

Senden Sie Fragen an: wissen@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.02.2016)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.