"Colonia Dignidad": Gefoltert im deutschen Idyll

(c) Ivan Alvarado (Reuters)
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1961 gründete der Deutsche Paul Schäfer in Chile seine "Kolonie der Würde". Doch die Siedlung entpuppte sich als totalitäres Regime, in dem Schweiß, Blut und Missbrauch an der Tagesordnung standen.

„Weißt du, was es für ein Gefühl ist, wenn zehn Dobermänner hinter dir her sind?“, fragte Wolfgang Kneese. Seine Gegenüber, Journalisten und Cineasten, schwiegen. Dabei war es keine hypothetische Frage, die er bei der Vorabvorführung des Thrillers „Colonia Dignidad“ am 10. Februar in Hamburg aussprach. Der Film, der das Schicksal eines fiktiven Paares zeigt, das in Chile in die Fänge der deutschen Sekte gerät, löste vielmehr reale Erinnerungen aus: Kneese wurde als Kind selbst Teil der Gemeinschaft, deren Praktiken seit Freitag auch auf den Leinwänden der österreichischen Kinos gezeigt werden. Er wurde gedemütigt, geschlagen und sexuell missbraucht. Erst sein dritter Fluchtversuch sollte erfolgreich sein.

Kopf der religiösen Gruppierung war der Deutsche Paul Schäfer. Er hatte während des Zweiten Weltkrieges als Sanitäter in Frankreich gedient, anschließend verdiente er als Hilfsarbeiter auf Jahrmärkten sein Geld, bevor er als evangelischer Jugendbetreuer eine Stelle fand. Bald schon fiel seine Neigung zu sadistischen Praktiken auf – wollte ein Jugendlicher nicht aufessen, musste er sich nackt ausziehen und Spießruten laufen. 1949 wurde er, nachdem auch Gerüchte aufkamen, er habe sich an Jungen vergangen, aus dem kirchlichen Dienst entlassen. Fortan machte sich Schäfer als Laienprediger selbstständig, gründete ein Kinder- und Jugendheim. Seine Anhängerschaft wuchs.

1961 wurde die Staatsanwaltschaft auf den Mann mit dem Glasauge (als Kind hatte er ein Auge verloren) aufmerksam: Zwei Jugendliche beschuldigten ihn, sich an ihnen vergangen zu haben. Ein Haftbefehl wurde ausgegeben – doch Schäfer war schneller: Der damals 39-Jährige tauchte mithilfe von rund 200 „Glaubensgenossen“ unter, denen er vormachte, nach Chile gehen zu wollen, um dort ein „urchristliches Leben im Gelobten Land“ zu führen. Sie folgten ihm – und nahmen die Zeugen der Anklage, rund 150 Heimkinder, mit sich.

Psychopharmaka, Schläge, Stacheldraht

In Chile erwarb Schäfer knapp 30.000 Hektar Land. Den dortigen Behörden gab er an, Waisenkindern Heim und Arbeit bieten zu wollen. Sein edel anmutendes Projekt nannte er „Sociedad Benefactora y Educacional Dignidad“ (Gesellschaft für Wohltätigkeit und Erziehungsanstalt der Würde), kurz „Colonia Dignidad“, Kolonie der Würde. Und tatsächlich entstand auf dem Landsitz rund 400 Kilometer südlich von Santiago de Chile bald ein Vorzeigegut: Die etwa 350 Dorfbewohner bewirteten in Dirndl und Lederhosen gewandet Felder, bauten eine Schlosserei, eine Nähstube, ein Internat und sogar ein Krankenhaus auf, in dem sie Chilenen kostenfrei behandelten. Bayrische Volkslieder wurden gesungen, Brot und Milch aus dem „gemeinnützigen Lager“ günstig zum Verkauf angeboten.

Zutritt in sein Reich gewährte der „Fromme“ („Pius“), wie sich Schäfer auch nannte, jedoch nur vereinzelt. Seine „colons“ wurden von einem Stacheldrahtzaun und Wachtürmen umgeben. Auf dem Gelände befanden sich Wanzen, Kameras und Selbstschusssysteme. Frauen mussten regelmäßig bei „Herrenabenden“ ihre Sünden beichten – und wurden von diesen dafür gedemütigt.

Kinder wurden zu Spionen erzogen, die tagsüber ihre Mitbewohner bespitzelten und nachts unter die Bettdecke des Sektenführers kriechen mussten – insbesondere Buben wurden von dem gebürtigen Bonner brutal vergewaltigt. Um sie gefügig zu machen wurden ihnen Psychopharmaka verabreicht, wie die damalige Leiterin der Klinik, Gisela Seewald, 2005 zugab. Taten sie nicht, wie ihnen gehießen, gab es Schläge oder Elektroschocks. Unter den Misshandelten waren auch Kinder von Chilenen, die diese ins Colonia-Krankenhaus gebracht hatten – und die sie teils erst nach Jahren wieder zu Gesicht bekommen sollten.

Der Alltag wurde in die Kategorien gut und böse unterteilt, Männer, Frauen und Kinder strikt voneinander ferngehalten. Sex war untersagt, auch Vermählten wurde der Vollzug der Ehe verboten – ihr Nachwuchs wurde ihnen gebracht, nicht geboren. Alles Familiäre war Schäfer ein Dorn im Auge – selbst in den Schulbüchern wurde alles, was mit diesem Thema zusammenhing verklebt. Was zählte, war er – und seine Version des Christentums.

Kontakte von Pinochet bis CDU

Eine Flucht aus dem „Idyll“ war nahezu unmöglich. Gelang sie doch, wurde den Entflohenen Unglauben entgegengesetzt: Bis 1985, so berichteten Betroffene, wurden alle, die in der deutschen Botschaft um Hilfe ansuchten, wieder in Schäfers Arme zurückgetrieben. Kaum anders verhielt sich die Bundesrepublik: Berichte von „Amnesty International“ und der UNO, die die Folter im Lager anprangerten, blieben ungehört. Der deutsche Journalist Gero Gemballa, der über das dortige Unrechtsystem in zwei Büchern informierte, starb im Alter von 40 Jahren an plötzlichem Herzversagen – bis heute halten sich Spekulationen über ein Giftattentat.

Bilder von Vermissten, angebracht am Zaun um die Colonia Dignidad
Bilder von Vermissten, angebracht am Zaun um die Colonia Dignidad(c) Reuters

Das offizielle Deutschland schwieg – selbst nach Besuchen im Lager. So stattete 1977 der frühere bayrische Ministerpräsident Franz Josef Strauß dem Dorf einen Besuch ab. Kritische Worte gab es von ihm nie.

Dass Schäfer auf seinem Landstrich unweit der Anden walten konnte, wie es ihm beliebte, hatte er nicht zuletzt seiner politischen Biegsamkeit zu verdanken: Als sich das chilenische Heer unter General Augusto Pinochet am 11. September 1973 an die Macht putschte, stellte sich Schäfer auf dessen Seite und bot ihm an, seine Gegner in einer unterirdischen „Parallelwelt“ zu foltern oder zu exekutieren. Unter dem „Musterdorf“ nämlich hatte der Deutsche ein System aus Gängen und befahrbaren Tunneln angelegt, die zu Bunkern und Abhörzellen führten. Pinochet nahm das Angebot an. Zudem belieferte Schäfer den Diktator mit Raketenwerfern, Senfgas und Minen – beschafft aus Deutschland.

Im Gegenzug verschlossen Polizei und Justiz die Augen, wenn chilenische Eltern die Entführung ihrer Kinder meldeten, oder angaben, dass ihre Söhne nicht mehr bzw. schwer misshandelt aus dem Colonia-Krankenhaus heimgekehrt waren.

40 Jahre Haft für den „ewigen Onkel“

Paul Schäfer
Paul Schäfer (c) Reuters

Eine Wende trat erst Mitte der 1990er Jahre ein: Zahlreiche der in der Kolonie missbrauchten Kinder hatten die Vergehen an ihnen dokumentiert, sodass die Justiz einen Haftbefehl gegen Schäfer ausgab. Zunächst aber fanden die Beamten weder ihn, noch belastendes Material. Pünktlich zu ihren Durchsuchungen war er verschwunden – um 1997 völlig unterzutauchen. 2004 wurde der „ewige Onkel“, wie er sich auch nannte, in Abwesenheit der Misshandlung und des Missbrauchs von mindestens 27 Kindern und illegalen Waffenhandels für schuldig befunden. Ein Jahr darauf wurde er in Argentinien gestellt und an Chile übergeben, wo er im Mai 2006 zu einer Haftstrafe von 20 Jahren sowie der Zahlung von rund 1,5 Millionen Dollar verurteilt wurde. 2009 wurde er wegen Körperverletzung in acht Fällen zu weiteren drei Jahren Gefängnis verurteilt.

Rund um die Jahrhundertwende wurden weitere Sektenmitglieder verhaftet – verurteilt allerdings nur selten. Geschuldet war das den Zeugen: Viele von ihnen zogen sich, kurz bevor sie aussagen sollten, in Schweigen zurück. Schäfers Tod im Jahr 2010 in einem Gefängnishospital in Santiago de Chile, änderte das ein wenig: Im Jänner 2011 wurden 26 ehemalige Mitglieder der Colonia Dignidad des mehrfachen Kindesmissbrauchs für schuldig befunden.

Heute ein Hotel, früher „schwierige Jahre“

Heute leben auf dem Gebiet des „fundo“, wie sie die einstige Kolonie nennen, noch rund 115 Traumatisierte. Die meisten von ihnen sind Greise; da Geschlechtsverkehr nur den engsten von Schäfers Gefolgsleuten gestattet wurde, fehlt in der Siedlung fast eine ganze Generation. Die Übriggebliebenen versuchen sich seit 2012 im Tourismus: Damals wurde die „Villa Baviera“ eröffnet, seither das bayrische Klischee gelebt. „Die meisten Chilenen verstehen unter deutscher Kultur nun mal Knödel, Trachten, Oktoberfest“, sagte die Dorfbewohnerin Anna Schnellenkamp 2014 gegenüber der „Zeit“. Aus der einstigen Überwachsungszentrale, dem „Ausguck“, wurde ein kleines Fitnessstudio, in einem alten Unimog der Bundeswehr werden Fahrten über das Gelände angeboten.

Colonia Dignidad – im Kino

Ein Leben abseits der Colonia trauen sich die wenigsten zu – ohne Spanischkenntnisse, Geld und Ausbildung. Hinzu kommt die Ablehnung durch die Außenwelt: Angehörige der im Lager Ermordeten fordern eine Aufarbeitung der Gräueltaten. Zwar bekundeten einige der Dorfbewohner 2006 in einem öffentlichen Brief, dass sie „die Schuld tragen, dass wir uns nicht gegen den despotischen Leiter erhoben haben“, doch verstehen sich viele von ihnen weiter als Opfer, nicht als Täter. „Wir waren doch alle gehirngewaschen“, betonte Señora Erika vor zwei Jahren gegenüber der „Zeit“, die als Kind in das Lager kam. Ähnlich sieht die offizielle Variante, notiert auf der Wand des Hotels Baviera, aus: Die Epoche von 1961 bis 1997 wird dort schlicht als „años difíciles“ bezeichnet – als „schwierige Jahre“.  Der Thriller „Colonia Dignidad – Es gibt kein Zurück“ des Oscar-prämierten Regisseurs Florian Gallenberger kommt am 19. Februar in die österreichischen Kinos und schildert das fiktive Schicksal des Paares Lena (verkörpert von Emma Watson) und Daniel (Daniel Brühl), das in die Fänge der Sekte „Colonia Dignidad“ gerät. Am 18. Februar wurde im Votivkino eine Vorpremiere abgehalten, zu der nicht nur Mikael Nyqvist, er spielt den Sektenführer Paul Schäfer, geladen war, sondern auch der in Wien lebende Chilene Erick Zott, der in der echten „Kolonie der Würde“ gefangen war.

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