„Gegendarstellung“: Ein Araber kontert Camus

Bei Albert Camus stand nur der Mörder im Mittelpunkt: Marcello Mastroianni in Luchino Viscontis Verfilmung von „Der Fremde“ (1967).
Bei Albert Camus stand nur der Mörder im Mittelpunkt: Marcello Mastroianni in Luchino Viscontis Verfilmung von „Der Fremde“ (1967).(c) Archiv
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Ist der Roman „Der Fremde“ ein Betrug, eine „erhabene Lüge“? Daouds fabelhaftes Gegenbuch „Der Fall Meursault“ erzählt die Geschichte des darin Ermordeten.

„Heute ist Mama gestorben. Vielleicht auch gestern, ich weiß es nicht.“ Wenige Romananfänge der Literatur sind so berühmt wie dieser. Knapp, kalt und klar erzählt Albert Camus im 1942 erschienen Buch „L'étranger“ die Geschichte des jungen Franzosen Meursault, der unter der brennenden Sonne Algeriens am Strand scheinbar zufällig einen Mord begeht. Ein absurder Mord, absurd wie das Leben.

Gerade deswegen wird Meursaults Geschichte in „Der Fremde“ ausführlich erzählt. Dem Mordopfer dagegen widmet der Roman nur zwei Sätze, nicht einmal einen Namen hat es, nur vom „Araber“ ist die Rede. Dieser „Araber“ hat nun auch eine Geschichte erhalten, noch dazu eine ganz großartige. „Der Fall Meursault – eine Gegendarstellung“ wurde in Frankreich schon 2013 begeistert aufgenommen und ist jetzt auf Deutsch im Verlag Kiepenheuer & Witsch erschienen. Es ist nicht die erste Revanche auf „Der Fremde“. Mehrmals schon wurde der Mord in Romanen umgekehrt, weiße Kolonialherren wurden von Arabern getötet. Aber wohl keine dieser Retourkutschen ist so kunstvoll als Kontrapunkt zu Camus und zugleich literarische Hommage angelegt wie der neue Roman von Kamel Daoud. Dieser ist Schriftsteller und ein bekannter Journalist wie seinerzeit Camus, er lebt in der algerischen Stadt Oran, wie eine Zeit lang Camus. Und er stammt aus sehr einfachen, bildungsfernen Verhältnissen wie seinerzeit Camus.

Daoud lässt Haroun, den alt gewordenen jüngeren Bruder des Ermordeten, reden, lamentieren, philosophieren. Haroun erzählt einem unbestimmten Zuhörer von seinem ermordeten Bruder, der hier einen Namen hat – Moussa –, von seinen Versuchen, dessen Ermordung zu rekonstruieren. Und er erzählt, noch wichtiger, von seinem eigenen düsteren Schicksal, das prototypisch ist: Die Mutter denkt nur an den ermordeten Sohn Moussa, vermittelt dem Jüngeren das Gefühl, als Überlebender schuldig zu sein, und macht ihn zum Werkzeug ihrer Rache – in den ersten Tagen der algerischen Unabhängigkeit 1962 bringt sie ihn dazu, einen beliebigen Franzosen zu töten.

„Keine Spur von unserer Trauer“

Immer wieder geht es dabei um Camus' Roman (auch wenn dessen Autor und Titel niemals ausdrücklich genannt werden), den der Erzähler als „Mysterium“ empfindet. Dessen „perfekte Sprache, die selbst der Luft etwas Diamantenes verleiht“, habe die Leser geblendet, vermutet der Erzähler. „Erhabene Lüge“, „schrecklichen Betrug“ nennt er das Buch. „Alles geschieht ohne uns. Es gibt keine Spur von unserer Trauer.“ Zum Tod seines Bruders habe er nur zwei kurze Zeitungsabschnitte gehabt, erzählt er, dann habe er 1962 den Roman gelesen und gedacht, er würde darin „die letzten Worte meines Bruders lesen, wie er atmete, was er zu seinem Mörder sagte, seine Spuren und sein Gesicht zu sehen, aber ich las nur zwei Zeilen über einen Araber“. Bei Camus sei Moussa „ein Araber, den man mit tausend anderen seiner Art oder mit einem Raben oder einem Schilfrohr oder mit was weiß ich austauschen kann“.

Eine Hommage an Camus, trotz allem

Aus Camus' Sprache hat Daoud ein neues, stilistisch bewundernswertes Haus gebaut, wie die Algerier nach der Unabhängigkeit die Häuser der Kolonialherren abgetragen und aus den Steinen neue gebaut haben. Er hat „seinen Camus“ nicht nur gelesen, sondern wohl verschlungen, und man hat den Eindruck, er rebelliert leidenschaftlich gegen ihn, wie gegen einen älteren Bruder.

Kein Wunder, dass das Motiv des Brudermords den Roman durchzieht. Auch dort, wo Haroun als Überlebender seine von der Mutter genährten Schuldgefühle ausdrückt. Oder wenn sein Mord am Franzosen als mythischer Brudermord beschrieben wird (der auch gleich die Sinnlosigkeit des soeben beendeten Algerien-Kriegs ausdrückt): „Indem ich Joseph umbrachte und in einen Brunnen warf, fand ich zu einem Glauben, der Gegner zu Brüdern macht: Wozu noch Konflikte, Ungerechtigkeiten und der ganze Hass auf den Feind, wenn man alles mit ein paar Schüssen lösen kann?“

Im Lauf des Buchs wird der Erzähler Haroun außerdem immer mehr zum Bruder, ja Zwillingsbruder von Camus' Helden Meursault – bis er am Ende, wenn er sich an seine Brandrede an einen um sein Seelenheil bemühten Imam erinnert, fast dieselben Worte verwendet wie Camus' Held im Gefängnis gegen den Priester. Etwa wenn er dem Imam sagt, dass keine seiner Gewissheiten „auch nur ein Haar der Frau wert“ sei, die er geliebt habe (sie heißt Meriem, fast wie Meursaults Geliebte Maria); oder wenn er sich als Leben nach dem Tod nur „ein Leben, in dem ich mich an dieses hier erinnern kann“, wünscht. Diese Camus'sche Rebellion gegen religiöse Zwänge ist im heutigen Algerien nicht überholt. „Du kannst nicht wissen“, klagt Haroun, „was man hier als alter Mann mitmacht, der nicht an Gott glaubt, der nicht in die Moschee geht, der nicht auf das Paradies wartet, der keine Frau und keinen Sohn hat, und der seine Freiheit wie eine Provokation vor sich herträgt.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.02.2016)

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