Die Antwort des Papstes auf die Krise: Wahrheit statt Wirklichkeit

(c) AP (Winfried Rothermel)
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„Caritas in Veritate“: Einen Tag vor dem Treffen der G8 im italienischen L'Aquila legte Papst Benedikt XVI. seine mit Spannung erwartete Sozialenzyklika vor. Sie ist vor allem theologisch zu lesen.

Das Timing hat diesmal gestimmt: Einen Tag bevor sich im nach wie vor zerstörten L'Aquila die Staats- und Regierungschefs der acht größten Industrienationen (G8) trafen, hatte Papst Benedikt XVI. seine lange erwartete Sozialenzyklika „Caritas in Veritate“, „Über die ganzheitliche Entwicklung des Menschen in der Liebe und in der Wahrheit“, veröffentlicht. Im Vorfeld hatte man damit gerechnet, dass sich der Papst mit dieser Veröffentlichung gewissermaßen als Neunter im Bunde in die Beratungen der Mächtigen dieser Welt über die ökonomische, ökologische und soziale Zukunft hineinreklamieren würde. Man erwartete vom Oberhaupt der katholischen Kirche harsche Kapitalismuskritik und Appelle in einer Deutlichkeit, der sich die weltlichen Mächtigen bei ihrem Treffen nicht würden entziehen können.
Tatsächlich handelt es sich bei dem in alter Tradition in „Nummern“ (79 an der Zahl) gegliederten, eine Einleitung, sechs Kapitel und einen Schluss umfassenden Dokument um einen stark von theologisch-kirchlichen Perspektiven dominierten, an ökonomischen Sachfragen begrenzt interessierten Text. Auch die weltweit als Schlagzeile kolportierte Forderung nach einer „Weltregierung“ ist nur eine Wiederholung einer alten Forderung seiner Vorgänger. 
„Die Liebe in der Wahrheit“, heißt es zu Beginn der Einleitung, „die Jesus Christus mit seinem irdischen Leben und vor allem mit seinem Tod und seiner Auferstehung bezeugt hat, ist der hauptsächliche Antrieb für die wirkliche Entwicklung eines jeden Menschen und der gesamten Menschheit.“ Benedikt XVI. formuliert darin die beiden Hauptanliegen seines Pontifikats, die Konzentration auf Christus als Sohn Gottes und den Kampf gegen jede Form des Relativismus, und die erkennbar unterschiedlichen Autoren der folgenden Kapitel versuchen, sich an dieser Richtschnur zu orientieren. „Ohne Wahrheit“, schreibt Benedikt, „ohne Vertrauen und Liebe gegenüber dem Wahren gibt es kein Gewissen und keine soziale Verantwortung: Das soziale Spiel wird ein Spiel privater Interessen und Logiken der Macht, mit zersetzenden Folgen für die Gesellschaft . . .“
Das erste Kapitel ist der „Botschaft von Populorum progressio“, der Sozialenzyklika Papst Pauls VI. aus dem Jahr 1967 gewidmet, von der  Benedikt XVI. meint, dass sie als „die Rerum novarum unserer Zeit angesehen werden müsse“. Also als aktualisierte Version jener Enzyklika von Papst Leo XIII., die 1891 die Tradition der katholischen Soziallehre begründet hat. Manche Beobachter meinen, das sei ein bewusstes Zurückgehen hinter „Centesimus annus“, die Sozialenzyklika von Johannes Paul II. zum 100. Jahrestag von „Rerum novarum“. Karol Wojtyla hat unter dem Eindruck der Ereignisse von 1989 mehr oder weniger deutlich von der Überlegenheit des kapitalistischen Systems gesprochen. Zugleich hebt der Papst in diesem Kapitel die Bedeutung der als „Pillenenzyklika“ bekannt gewordenen „Humanae vitae“ Pauls VI. hervor, weil sie „die starken Verbindungen“ aufzeige, die „zwischen der Ethik des Lebens und der Sozialethik“ bestehen. Der Zusammenhang zwischen der „Offenheit des Lebens“ und der „wahren Entwicklung des Menschen“ durchzieht den ganzen Text der Enzyklika.
Im zweiten Kapitel („Die Entwicklung des Menschen in unserer Zeit“) unternimmt Benedikt eine Art Streifzug durch die Gegenwartsprobleme – Ernährung, Bildung, Entwicklungshilfe, Umwelt – und geht dabei besonders auf die neu zu definierende Rolle von staatlichen Strukturen und Gewerkschaften im Angesicht der Krise ein. Gefordert sei „eine neue und vertiefte Reflexion über den Sinn der Wirtschaft und ihrer Ziele“.
Im dritten Kapitel („Brüderlichkeit, wirtschaftliche Entwicklung und Zivilgesellschaft“) spricht sich der Papst für eine neue, verstärkte Rolle der zivilgesellschaftlichen Organisationen als eine Art „dritter Sektor“ neben privatem Unternehmertum und staatlicher Wirtschaftstätigkeit aus. Sein Hauptargument: „Die exklusive Kombination Markt?–?Staat zersetzt den Gemeinschaftssinn. Die Formen solidarischen Wirtschaftslebens hingegen, die ihren fruchtbarsten Boden im Bereich der Zivilgesellschaft finden, ohne sich auf diese zu beschränken, schaffen Solidarität.“ Es bedürfe einer „tiefgreifenden“ Veränderung des Verständnisses von Unternehmen, schreibt der Papst: „Eine der größten Gefahren ist sicher die, dass das Unternehmen fast ausschließlich gegenüber den Investoren verantwortlich ist und so letztendlich an Bedeutung für die Gesellschaft einbüßt.“ Zugleich fordert Benedikt, wir dürften „nicht Opfer sein, sondern müssen Gestalter werden, indem wir mit Vernunft vorgehen und uns von der Liebe und von der Wahrheit leiten lassen“.
Das vierte Kapitel („Entwicklung der Völker, Rechte und Pflichten, Umwelt“) gibt Benedikt XVI. eine weitere Möglichkeit, bei Pius VI. und „Humanae vitae“ anzuknüpfen: Nicht das Bevölkerungswachstum sei unser heutiges Problem, im Gegenteil: „Große Nationen haben auch dank der großen Zahl und der Fähigkeiten ihrer Einwohner aus dem Elend herausfinden können. Umgekehrt erleben einst blühende Nationen jetzt wegen des Geburtenrückgangs eine Phase der Unsicherheit und in manchen Fällen sogar ihres Niedergangs . . .“ Der Papst empfiehlt die Etablierung des „dritten Sektors“ samt Ausbau des „Mikrofinanzierungswesens“ auch in den Entwicklungsländern. Unter Bezugnahme auf die knappen Ressourcen an nicht erneuerbaren Energien mahnt er „die heutige Gesellschaft“, ernsthaft ihren Lebensstil zu überprüfen, der zu „Hedonismus und Konsumismus“ neige und „gegenüber den daraus entstehenden Schäden gleichgültig bleibt“.
Das fünfte Kapitel („Die Zusammenarbeit der Menschheitsfamilie“) bringt dann die bereits vorab kolportierte Forderung nach der „Weltregierung“: „Um die Weltwirtschaft zu steuern, die von der Krise betroffenen Wirtschaften zu sanieren (. . .), ist das Vorhandensein einer echten politischen Weltautorität (. . .) dringend nötig.“ Wie eine solche Autorität aussehen soll, bleibt fraglich, umso mehr, als wenige Nummern zuvor festgehalten wurde, dass sie „auf subsidiäre und polyarchische Weise organisiert“ sein müsse, „um nicht die Freiheit zu verletzen und sich konkret wirksam zu machen“.
Das sechste Kapitel („Die Entwicklung der Völker und die Technik“) bleibt blass, vor allem in dem an sich entscheidenden Punkt über „soziale Kommunikationsmittel“ (Nr. 73).
Im Schluss schließt sich der argumentative Kreis: „Ohne Gott weiß der Mensch nicht, wohin er gehen soll, und vermag nicht einmal zu begreifen, wer er ist“, schreibt der Papst, „der Humanismus, der Gott ausschließt, ist ein unmenschlicher Humanismus.“

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