Oscars: Redaktionswünsche und Buchmacher-Realität

THE REVENANT, from left: director Alejandro Gonzalez Inarritu, Leonardo DiCaprio, on set, 2015. ph:
THE REVENANT, from left: director Alejandro Gonzalez Inarritu, Leonardo DiCaprio, on set, 2015. ph:©20thCentFox / Everett Collection / picturedesk.com
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In der Nacht auf Montag werden die Academy Awards vergeben: Die "Presse"-Filmkritiker blicken in ihre Glaskugel und versuchen sich an einer Einschätzung zur glamourösesten Filmnacht des Jahres.

Der Abstand zwischen Wunsch und Wirklichkeit kann auch im Kino zermürben. Die Startaufstellung der heurigen Oscars lässt nicht nur Diversität hinsichtlich der Hautfarbe der Nominierten vermissen, sondern ist auch rein qualitativ betrachtet eher ernüchternd. Das Durchhalteepos „The Revenant“ führt mit insgesamt zwölf Nominierungen, ansonsten dominieren Filmbiografien zu diversen problemthematischen Komplexen das Feld. Visionäres Kinogut wie „Mad Max: Fury Road“ wurde zwar brav nominiert, darf sich aber nicht allzu viele Hoffnungen auf einen Goldregen machen. Immerhin: Österreich ist mit einigen leicht zu übersehenden Talenten in Hollywood vertreten. Patrick Vollraths Sorgerechtsmelodram „Alles wird gut“ ist als bester Kurzfilm nominiert, hat aber aus Buchmachersicht nur geringe Oscar-Chancen. Sebastian Thaler führte dabei die Kamera, sein Vater Wolfgang lieferte die Bilder für den Auslands-Oscar-Kandidaten „Theeb“, der auch als Außenseiter gilt.


• Bester Film:
Nominiert sind „The Revenant“, das Aufdeckerdrama „Spotlight“, die Finanzkrisenkomödie „The Big Short“, „The Martian“, die Action-Extravaganz „Mad Max: Fury Road“, das Entführungsdrama „Room“, die historische Romanze „Brooklyn“ und Spielbergs „Bridge of Spies“.

Wird gewinnen: Die Buchmacher sind sich heuer selten einig. Das ruppige Hochglanzdrama „The Revenant“, von weniger freundlichen Kritikern als „Survival Porn“ abgestempelt, punktet mit brillanter Kamera und DiCaprios Körpereinsatz.

Sollte gewinnen: Kein Film des letzten Jahres hat Publikum und Kritiker gleichermaßen begeistert wie George Millers überragendes Rost-und-Reifen-Epos „Mad Max: Fury Road“, eine so anachronistische wie radikal moderne Melange aus Hyperkinetik und unerwartet feministischen Untertönen. Leider finden Genrefilme dieser Art in der Biedermeier-Academy für gewöhnlich kaum Zuspruch.

Übergangen: Anspruchsvolle Science-Fiction hat durchaus Oscar-Potenzial, wie man am Trophäen-Durchmarsch von „District 9“ im Jahr 2010 sehen kann. Insofern wäre eine Nominierung für Alex Garlands intelligenten Transhumanismus-Thriller „Ex Machina“ nicht nur denkbar, sondern auch wünschenswert gewesen.



• Regisseur:
Im Rennen sind Alejandro G. Iñárritu für „The Revenant“, Adam McKay für „The Big Short“, George Miller für „Mad Max: Fury Road“, Tom McCarthy für „Spotlight“ und Lenny Abrahamson für „Room“.

Wird gewinnen: Vor zwei Jahren holte sich Alfonso Cuarón mit „Gravity“ den Oscar, heuer wird ihm ziemlich sicher zum zweiten Mal sein Landsmann Alejandro G. Iñárritu (letztes Jahr Oscar für „Birdman“) nachfolgen. Technische Kraftakte beeindrucken die Academy, vor allem wenn sie mit Leidenspathos gekoppelt sind.

Sollte gewinnen: George Miller hätte den Oscar für seine mehrjährige Marathonproduktion „Mad Max: Fury Road“ mehr als verdient. Die unbändige Anarcho-Energie dieses wüsten Punk-Meisterstücks lässt seine Konkurrenten Staub fressen und wirkt trotz des 70-jährigen Regisseurs frisch wie ein Debütfilm. Ebenfalls preiswürdig: das Komödiengenie Adam McKay.

Übergangen: Wenn schon Mexikaner, dann Guillermo del Toro. Der Edelfantast aus Guadalajara hat mit seiner opulenten Schauerromanze „Crimson Peak“ dem klassischen Gruselkino auf betörende Weise Tribut gezollt.



• Hauptdarsteller:
An die Weltspitze gespielt haben sich heuer Leonardo DiCaprio in „The Revenant“, Eddie Redmayne in „The Danish Girl“, Michael Fassbender in „Steve Jobs“, Bryan Cranston in „Trumbo“ und Matt Damon in „The Martian“. Ihre Rollen sind gleichsam auch die jeweiligen Filmtitel.

Wird gewinnen: Das lange Warten hat für Leonardo DiCaprio wohl endlich ein Ende. Viermal war er bisher nominiert, noch nie ging er mit dem Oscar nach Hause. Sein bildfüllendes Leiden als „The Revenant“ dürfte bei der Academy alle richtigen Knöpfe drücken. Wohl wieder ein Triumph fürs Method Acting.

Sollte gewinnen: Die heurige Auswahl ist eher uninspiriert, aber die Leistungen von Eddie Redmayne und Michael Fassbender ließen wohl niemanden unbeeindruckt und waren die einzigen Glücksspender in ansonsten ausgesprochen durchwachsenen Kinobiografien, die es zu Recht nicht auf die Liste der besten Filme des Jahres geschafft haben.

Übergangen: Benicio del Toros Darstellung eines skrupellosen Söldners mit dunkler Vergangenheit in „Sicario“ von Denis Villeneuve ist im Gegensatz zur ähnlich angelegten Figur in „No Country for Old Man“ das nuancierte Porträt einer gequälten Seele, die zu gleichen Teilen Bedrohlichkeit und Verletzlichkeit ausstrahlt. Auch nicht ohne: Zac Efron in „We are your friends“.



• Hauptdarstellerin:
Meryl Streep ist heuer nicht unter den Nominierten, dafür aber Brie Larson für „Room“, Saoirse Ronan für „Brooklyn“, Cate Blanchett für „Carol“, Jennifer Lawrence als Wischmopp-Erfinderin „Joy“ und die unverwüstliche, immer brillante britische Grande Dame Charlotte Rampling für „45 Years“.

Wird gewinnen:
Bei den Buchmachern überraschenderweise ganz weit vorn ist die kalifornische Newcomerin Brie Larson in der fordernden Rolle einer Mutter, die im Hinterhof-Kerker gefangen für das Überleben ihres kleinen Sohns an ihre Grenzen gehen muss. Parallelen zum Fall Fritzl sind kein Zufall.

Sollte gewinnen:
Edelmimin Cate Blanchett spielt ihre Titelfigur in „Carol“ als beeindruckenden Gefühlspanzer mit Rostflecken und vulkanischen Triebadern. Andererseits muss nach zwei schon gewonnenen Oscars (für „The Aviator“ und „Blue Jasmine“) auch mal Schluss sein. Charlotte Rampling hätte sich ihren ersten hingegen wirklich verdient.

Übergangen:
Die Oscars sind nicht nur weißgewaschen, sondern auch ignorant gegenüber alternativen Sexualitäten. Ein Oscar für die Transgender-Aktrice Kitana Kiki Rodriguez in „Tangerine“ hätte ein Zeichen gesetzt.



• Nebendarsteller:
Dieses Jahr nominiert sind Sylvester Stallone für das Rocky-Comeback „Creed“, Mark Rylance für „Bridge of Spies“, Tom Hardy für „The Revenant“, Christian Bale für „The Big Short“ und Mark Ruffalo für „Spotlight“.

Wird gewinnen:
Nach unendlichen Triumphen im Kinoboxring dürfte der verkannte Charakterdarsteller Sylvester Stallone nun endlich auch seinen wohlverdienten Oscar mit nach Hause nehmen. Sein Dacapo als Rocky Balboa, der einen jungen Protegé unter seine Fittiche nimmt, ist gewaltig und bewegend.

Sollte gewinnen: Wunsch und Wirklichkeit dürften ausnahmsweise zusammenfallen. Schon für den ersten „Rocky“-Film war Stallone 1977 nominiert, fast vier Jahrzehnte danach soll und muss er endlich auch innerhalb der Filmbranche die Anerkennung erhalten, die er sich eigentlich immer schon verdient hätte. Christian Bale verblasst zwar neben Stallone, wäre aber auch ein würdiger Preisträger.

• Nebendarstellerin: Nominiert sind Alicia Vikander für „The Danish Girl“, Rooney Mara für „Carol“, Kate Winslet als Assistentin von „Steve Jobs“, Jennifer Jason Leigh als Galgenvogel in „The Hateful Eight“ und Rachel McAdams als rasende Reporterin in „Spotlight“.

Wird gewinnen:
In der Society spricht man von It-Girls, Alicia Vikander ist zweifelsfrei die It-Schauspielerin der Stunde. In „The Danish Girl“ tränen ihre Rehaugen unablässig für die ersehnte Oscar-Weihe, mit voraussichtlichem Erfolg, wenn man den Wettbüros Glauben schenken darf.

Sollte gewinnen: Eine der beeindruckendsten Darstellerinnen des 1980er- und 1990er-Jahre-Kinos wird von Quentin Tarantino in „The Hateful Eight“ in ein neues, sehr blutiges Kleid gesteckt: Jennifer Jason Leigh imponiert als geifernder, schimpfender Outlaw. Ganz bestimmt eine der widerborstigsten, ungewöhnlichsten Frauenfiguren des Kinojahres.

Übergangen. Jessica Chastain, eine der ätherischsten Schauspielerinnen Hollywoods und für gewöhnlich abonniert auf elfenhafte Frauenrollen, verwandelt sich in Guillermo del Toros „Crimson Peak“ in eine gequälte, schauerromantische Todesgöttin und Mottenfreundin. Eine der überraschendsten Wandlungen des Jahres und definitiv auch einen Oscar wert.



• Animation:
Als außergewöhnlich animierend empfand die Academy heuer das Hirnkastl-Meisterwerk „Inside Out“, Charlie Kaufmans Stopp-Motion-Tragikomödie „Anomalisa“, die belämmerte Gaudi „Shaun the Sheep Movie“, das Studio-Ghibli-Drama „When Marnie was there“ und die schon 2013 veröffentlichte Coming-of-Age-Fantasy „Boy & the World“.

Wird gewinnen: „Inside Out“ schließt mit seiner erzählerisch perfekten Mischkulanz aus Bilderbuchästhetik und kinderpsychologischer Abhandlung an vergangene Pixar-Meisterstücke wie „Toy Story“ an und erfreut mit Intelligenz, Humor, Humanismus und technischer Perfektion. Der Sieg in dieser Kategorie ist aufgelegt, aber verdient.

Sollte gewinnen: „Anomalisa“ ist das Prachtexemplar eines Anti-Oscar-Films. Narrativ herausfordernd, melancholisch-depressiv und ohne jedes falsche Sentiment erzählt Kaufman von moderner Vereinsamung vermittels einer traditionellen, dezent anachronistischen Animationstechnik. Der Sonderfall eines Trickfilms für Erwachsene, für die Academy aber vermutlich zu eigen.



• Bester fremdsprachiger Film.
Unter den fünf untertitelten Filmen, die der Academy heuer zugesprochen haben, sind der ungarische „Son of Saul“, der türkische „Mustang“, der jordanische „Theeb“, der dänische „A War“ und der kolumbianische „Embrace of the Serpent“. Für Österreich war „Ich seh, Ich seh“ eingereicht, leider erfolglos.

Wird gewinnen: Schon in Cannes sorgte der Auschwitz-Höllentrip „Son of Saul“ von László Nemes für offene Münder und kritische Stimmen. Letztere sind in den vergangenen Monaten eher verstummt, mit Claude Lanzmann fand sich auch ein namhafter Verfechter, der den Weg zum voraussichtlichen Oscar-Sieg geebnet hat.

Sollte gewinnen: Die kalkulierte Wucht von „Son of Saul“ schmiert ab gegen die zügellose Energie des türkischen Beitrags „Mustang“ von Deniz Gamze Ergüven über eine lebensgeile Geschwisterbande im Kampf gegen religiöse Borniertheit.

Übergangen: Hou Hsiao-hsien legte mit dem zurückgelehnten Kampfkunstgemälde „The Assassin“ einen gerade durch seine Konzentration und Stille berauschenden Kunst-Genrefilm vor, der Kritiker weltweit begeisterte, aber für die Academy wohl etwas zu sperrig geraten ist. Alternativen: der indische „Court“ und der rumänische „Aferim!“. AFP/10, Reuters/2, Magnolia Pictures

Oscar-Gala: Wann & Wo

Die Academy Awards werden am Sonntagabend (Ortszeit) im Dolby Theatre in Los Angeles vergeben. Chris Rock moderiert.

Übertragung
im deutschsprachigen Fernsehen: Der ORF sendet ab 0.45 Uhr, die Preisverleihung wird ab 2.30 Uhr gezeigt, es moderieren Nadja Bernhard und Alexander Horwath, Direktor des Österreichischen Filmmuseums.Pro7 überträgt ab 00.35 Uhr live.

Kino.
Wer die Gala im großen Kreis verfolgen will: Im Gartenbaukino beginnt die Oscar-Nacht schon zu Mittag. Ab 12 Uhr werden nominierte Filme gezeigt, Einlass für die Liveübertragung ab 1.30 Uhr. Das Burgkino beginnt sein Programm um 13.30 Uhr.

Dankesreden. Für die 88. Vergabe der Filmpreise wurde ein neues Reglement erlassen. Demnach sollen sich die Empfänger der Preise in ihren 45-Sekunden-Reden auf ihre Hauptbotschaft konzentrieren - nicht aber auf Dankesworte. Die Oscar-Kandidaten können den Organisatoren eine Liste mit Namen überreichen, sie werden dann schriftlich eingeblendet.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.02.2016)

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