Schmelztiegel Prater: Ein Reich der Illusionen

Archivbild: Die Geisterbahn „Hotel Psycho“ im Prater.
Archivbild: Die Geisterbahn „Hotel Psycho“ im Prater. (c) Clemens Fabry
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Seit 250 Jahren ist der Prater nicht nur Wiener Wahrzeichen und Erholungsort, er ist auch Schmelztiegel: Hier treffen sich irgendwann alle. Jetzt, zum Jubiläum, blühen im Prater nicht nur die gern besungenen Bäume.

Eigentlich wirkt Kristof Brantusa nicht wie einer, vor dem man sich fürchten muss: Der 28-Jährige ist mittelgroß, trägt grauen Kapuzenpullover und Arbeitshose, spricht leise und lächelt viel. Dabei verbringt er den Großteil seiner Zeit mit Massenmördern, Zombies und Untoten – und ist dafür verantwortlich, dass schon Hunderte vor Schreck aufgeschrien haben. „Oft reicht ein leises ,Buh‘, das ich jemandem ins Ohr hauche, oder wenn ich sie mit kalten Fingern im Nacken berühre, dann brüllen die Menschen um ihr Leben“, sagt er – noch immer lächelnd. Manchmal nehme er aber auch Kettensäge und Axt und lasse Blut spritzen.

Brantusa ist kein Psychopath, sondern Besitzer des Hotel Psycho, einer Geisterbahn im Wiener Prater – wo er den Fahrgästen ein Zusatzservice gibt – als Erschrecker. „Immerhin bezahlen sie dafür, sich zu gruseln“, sagt er. „Ich biete ihnen etwas.“

Schmelztiegel. Seit 250 Jahren kommen Menschen in den Prater, um Abstand zum Alltag zu bekommen und sich Illusionen hinzugeben: Die einen tun das, indem sie im Vergnügungspark für Grenzerfahrungen bezahlen. Sie lassen sich in der Geisterbahn einen Schock verpassen, im Spiegelkabinett die Orientierung rauben oder wagen sich für einige Sekunden Schwerelosigkeit auf ein Karussell. Andere suchen nach Abwechslung im angrenzenden Grünen Prater, der wohl das bedeutendste innerstädtische Naherholungsgebiet ist. Hier lässt sich Sport treiben, spazieren gehen oder einfach auf einer der vielen Wiesen liegen – wenn die Temperaturen das zulassen, natürlich.

Es gibt wohl kaum einen Wiener, der nicht besondere Erinnerungen mit dem Prater verknüpft: Vor allem jene, die vor 1990 geboren wurden, werden an ihren Firmtag denken. Damals war es Tradition, diesen im Prater zu verbringen – die Firmlinge wurden mitgeschmückten Kutschen, Blumen und Ballons gefeiert. Das Riesenrad ist als Wahrzeichen der Stadt Identifikationssymbol für die Bewohner mit ihrer Stadt. Seit dem 7. April 1766, als Kaiser Joseph II. die bis dahin kaiserlichen Jagdgebiete der Öffentlichkeit überließ, treffen sich im Prater Menschen. Und das über sämtliche Grenzen von Alter, sozialer Schicht, Religion oder Herkunft hinweg. Was sie verbindet, ist der Wunsch nach einer Auszeit vom Alltäglichen. „Der Prater war immer ein Ort für alle, ein Ort des Überflusses, ein Reich der Illusionen und des Spektakels“, sagt Ursula Storch, Kulturhistorikerin des Wien-Museums und Kuratorin der am 9. März startenden Ausstellung „In den Prater!“.

Brantusas Familie hilft seit mehr als 150 Jahren, die Sehnsucht nach der Illusion zu stillen. Der Geisterbahnbesitzer ist Spross einer jener drei Praterdynastien, die den Wurstelprater zu dem gemacht haben, was er heute ist. Die Familien betreiben hier ein Viertel der rund 250 Geschäfte und Lokale, viele wohnen sogar auf dem Areal. Auch Brantusas Elternhaus liegt, von außen kaum sichtbar, zwischen Fahrgeschäften versteckt. So ungewöhnlich wie die Wohnorte und die Berufe dieser Familie ist auch ihre Geschichte. Brantusas Urururgroßvater Nikolai Kobelkoff (siehe Bild unten) war nämlich nicht nur Begründer des Vergnügungsparks, sondern selbst eine Attraktion. Der Russe ohne Arme und Beine trat in einer der zahlreichen Menschenschauen auf, die hier im 19. Jahrhundert regelmäßig stattfanden. Dort wurden etwa siamesische Zwillinge, Kleinwüchsige oder sogenannte Rumpfmenschen – wie Kobelkoff – gezeigt.

Der Russe erfreute sich großer Beliebtheit, weil er trotz seiner Behinderung schreiben, malen und sogar mit einem Gewehr schießen konnte. Er war ein angesehener Mann. Doch nicht alle, die auf diesen Schauen zu sehen waren, wurden respektvoll behandelt. So gab es etwa Nachbildungen von afrikanischen Dörfern, in die Menschen aus den abgebildeten Regionen gebracht wurden. Sie wurden angewiesen, hier möglichst authentischzu leben, um den Besuchern ein realistisches Bild der fernen Länder zu vermitteln. Einer der Besucher, der in einem dieser Dörfer viel Zeit verbrachte und sich davon inspirieren ließ, war der Schriftsteller Peter Altenberg. Seine Erfahrungen verarbeitete er in der Prosaskizze „Ashantee.“

Im Vergleich zu vielen anderen „Menschenattraktionen“, die teilweise wie Tiere gehalten wurden (und auch im Tierpark gezeigt wurden), fand Kobelkoff in Wien sein Glück. Er verliebte sich in eine Wienerin, bekam mit ihr elf Kinder und baute den Wiener Wurstelprater auf – den seine Nachfahren heute noch betreiben.

Feuerwerktheater. „Die Menschenschauen sind aus heutiger Sicht ein unschönes Kapitel in der Geschichte des Wiener Praters – sich die Welt ins Haus zu holen und die Sensation gibt es hier aber seit Anbeginn“, sagt Storch. „Hier fanden die größten Veranstaltungen statt, wurde die neueste Technik ausprobiert.“ Der Prater sei seit jeher ein Experimentierort – in sozialer, technischer und globaler Sicht.

So fanden ab den 1770ern auf der Feuerwerkswiese szenische Feuerwerke statt – ganze Theaterstücke wie Goethes „Leiden des jungen Werthers“ wurden als Feuerwerke aufgeführt. Grundlage dafür war eine 50 mal 125 Meter große Holzkonstruktion, auf der die Feuerwerkskörper, die sogenannte Dekoration, befestigt waren. Es handelte sich dabei um mit Lichtern befestigte Figuren, Landschaften und Gegenstände. Dann wurde eine Szene nach der anderen gezündet. Bis zu 25.000 Zuschauer fanden sich zu diesen Spektakeln ein. Die Feuerwerkswiese lag übrigens auf der linken Seite der Ausstellungsstraße (die früher Feuerwerksallee hieß und mit der Weltausstellung umbenannt wurde) im jetzigen Stuwerviertel. Das wiederum hat seinen Namen von der Familie Stuwer, die über Generationen diese Feuerwerksspektakel veranstaltete. Die Wiese verschwand mit der Weltausstellung 1873 – auch der Wurstelprater veränderte sich radikal. Bis dahin hatte eher ein Wildwuchs an Buden und Geschäften geherrscht. „Es erschien des internationalen Publikums nicht würdig, und man ersetzte die improvisierten Hütten und Stände durch schöne Pavillons – die Wege wurden asphaltiert“, sagt Storch. Es habe Stimmen gegeben, die den „guten alten Prater“ für immer verloren gesehen haben – auch etwas, was Tradition zu haben scheint. Als der Pratervorplatz vor rund zehn Jahren neu gestaltet wurde, waren die Reaktionen nach dem Umbau ähnlich. Die Welt in Wien. „Mit der Weltausstellung begann eine Zeit der pompösen Ausstellungen, mit denen man sich die Welt nach Hause holen wollte“, sagt Storch. So wurde etwa 1895 der Vergnügungspark „Venedig in Wien“ präsentiert. Auf 50.000 Quadratmetern gab es venezianische Paläste, Brücken und Kanäle mit Gondeln, die man 1:1 nachgebaut hatte. Bis zu 25.000 Besucher kamen pro Tag. „Es gab einige Projekte in dieser Dimension, für die ein enormer Aufwand betrieben wurde – die heute ihresgleichen suchen“, sagt Storch. 1897 wurde dann zum 50-jährigen Thronjubiläum Kaiser Franz Josephs I. das Riesenrad aufgebaut. Die Blütezeit des Praters endete mit Beginn des Ersten Weltkriegs. Die Nationalsozialisten zerstörten den Wurstelprater schließlich fast zur Gänze.

Untrennbar mit dem Prater verbunden sind auch das Verbrechen und die Unterwelt. „Ich kann mich erinnern, dass es hier im Wurstelprater immer wieder illegale Autorennen gegeben hat, als ich noch ein Kind war“, erzählt Kristof Brantusa. Auch Bandenkriege und Messerstechereien habe es seit den 50ern gegeben – erst vor wenigen Jahren war damit Schluss. Immer wieder kam es zu Morden im Prater. Bis vor wenigen Jahren war das Stuwerviertel auch für Prostitution bekannt – hier blühte der Straßenstrich, bis er 2011 per Gesetz verboten wurde. Erst vor wenigen Wochen sperrte das letzte Stundenhotel endgültig zu. Und seit dem Verbot des Kleinen Glücksspiels vor einem Jahr sind auch viele Spieler verschwunden.

WU statt Rotlicht als Nachbarn. Mit der Eröffnung des WU-Campus 2013 erlebte das Viertel eine weitere Aufwertung. Geplante Wohnbauprojekte wie das Viertel Zwei bei der Trabrennbahn in der Krieau werden diesen Trend fortsetzen – sofern sich die aktuelle Problematik der Obdachlosen, Alkoholiker und Drogendealer am Praterstern sich nicht weiter ausbreitet.

Der Prater wird sein 250-jähriges Bestehen jedenfalls mit einigen Neuigkeiten feiern. Ein Rollercoaster-Restaurant wird Ende März eröffnen. Die Speisen und Getränke laufen dort über eine Art Achterbahn durch den Raum, bevor sie auf dem Tisch landen – und Roboter sollen die Cocktails mixen. Eine weitere Attraktion ist als Überraschung angekündigt. Angeblich soll es sich um die Olympia-Hochschaubahn handeln, die schon auf dem Münchner Oktoberfest stand. Sie hat einen Fünffachlooping und ist 1250 Meter lang.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.03.2016)

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