Der große Siegfried-Lenz-Roman, den keiner kannte

Siegfried Lenz
Siegfried Lenz(c) APA
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Der Kalte Krieg verhinderte die Veröffentlichung, nun ist "Der Überläufer" erschienen: ein kraftvolles Buch mit rätselhafter Geschichte.

Der greise Apotheker hinter der Fensterscheibe, der sich Injektionen spritzt, um Kriegserinnerungen zu vergessen: Diese Szene gleich zu Beginn des Romans „Der Überläufer“ lässt auch den 35-jährigen Proska erzittern. „Man soll sich nicht erinnern! Wenige können aus dem lernen, was gewesen ist. Ich nicht“, sagt der Alte. Ausgerechnet von ihm aber bekommt Proska die Marke, dank derer er einen Brief an seine Schwester abschicken kann – das Bekenntnis eines zu Kriegsende begangenen Mordes. Lenz' Devise ist eine andere als die des Apothekers: Du sollst dich erinnern!

Über 60 Jahre nach seiner Entstehung überrascht ein großartiges Buch die literarische Öffentlichkeit, von dem fast niemand etwas wusste – nicht einmal die Witwe des vor zwei Jahren verstorbenen Siegfried Lenz. Sein Roman „Der Überläufer“, der soeben bei Hoffmann und Campe erschienen ist, klingt wie ein Ruf aus weiter Ferne. Die Qual, der Zorn, aber auch die Weisheit seiner Figuren wirken fremd für ohne Krieg Aufgewachsene. Quälend lang werden heutige Leser vielleicht auch die detaillierten Beschreibungen des Kriegsalltags in den ostschlesischen Sümpfen finden, wo ein von der Wehrmacht im Stich gelassenes Häuflein deutscher Soldaten allein zwischen polnischen Partisanen zu bestehen versucht. Altertümlich wirken die schweren Metaphern, auch wenn sie immer wieder in lakonische Wendungen münden. Umso mehr staunt man beim Lesen: Trotz allem geht „Der Überläufer“ unter die Haut, erzwingt Nähe, auch heute noch.

Wenn Verlage aus dem Nachlass veröffentlichte Werke als Sensation ankündigen, ist in der Regel Vorsicht angebracht. Ein US-amerikanischer Buchhändler verkündete jüngst, er werde allen Käufern des 2015 erschienenen Romans „Go Set A Watchman“ von Harper Lee auf Wunsch den Kaufpreis rückerstatten, denn der Verlag habe die Leser irregeführt. Tatsächlich handelt es sich um eine frühe Fassung des berühmt gewordenen Romans „Wer die Nachtigall stört“, wurde aber vom Verlagsmarketing höchst erfolgreich als selbstständiges Werk und sagenhafter Überraschungsfund verkauft.

Ein deutscher Soldat wird Partisan

„Der Überläufer“ hingegen ist tatsächlich eine Sensation. Im Nachwort werden die Gründe der langen Nichtveröffentlichung minutiös rekonstruiert, der wichtigste: Ein Roman über Überläufer der deutschen Wehrmacht war Anfang der Fünfzigerjahre, mitten im Kalten Krieg und in der Adenauer-Ära, eine gefährliche Provokation. Trotzdem bleibt letztlich rätselhaft, warum dieses so kraftvolle und wahrhaftige Werk auch später nie veröffentlicht worden ist.

Proska ist, wie viele Protagonisten des Autors, ein einfacher Mann mit Gewissen. Er kommt aus Masuren, einer Region, die früher in Ostpreußen lag und 1945 polnisch wurde. Der Krieg verschlägt ihn in die ostschlesischen Sümpfe, auf einer Zugfahrt verliebt er sich in die hübsche junge Polin Wanda. Gehört sie zu den Partisanen? Die lauern dort überall, sprengen Züge in die Luft. Proska verliebt sich in Wanda, erschießt versehentlich ihren Bruder und läuft schließlich zu den Partisanen über – um sein Leben zu retten, aber auch um „die Klique“ (die deutsche Führung) zu beseitigen, die in seinen Augen für den sinnlosen Krieg verantwortlich ist. Er wird schuldig gegenüber seinen Kameraden, noch schuldiger gegenüber seiner Schwester.

Gefahr, Tod und totale Verlorenheit vermitteln die Naturbilder, mit denen Lenz – in dieser Hinsicht ganz Erbe der Romantik und des Expressionismus – die Situation und Gefühle seiner Figuren vielleicht am stärksten vermittelt. „Wie gleichmütig das Holz der Axt entgegensieht. Die Seele ist ein Kuckuck; wenn die Sonne scheint, fliegt er zu Gott. Die Weidensträucher dösten vor sich hin wie bettelnde Greise. Man kann ihnen niemals trauen.“ Auch wenn das der heutigen Coolness-Mode widerspricht – Lenz' starke poetische Metaphern wirken immer noch.

Auch den Gegensatz zwischen dem furchtbaren Kriegsalltag und den schlichten Sehnsüchten nach einem normalen Leben macht „Der Überläufer“ meisterlich spürbar. Und dann ist da noch die aus anderen Lenz-Romanen wie „Deutschstunde“ so vertraute, manchmal zum Predigerhaften tendierende Stimme des Moralisten, der einem Kompass vertraut – dem menschlichen Gewissen. „Alles geht vorbei“, heißt es im Roman, „das Feuer von den Lippen, die Wünsche aus den Augen; die Zärtlichkeit, die felsharte Treue und die Herzensangst. Nur das Gewissen verdorrt nicht, diese stolze, herbe Landschaft der Gerechtigkeit.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.03.2016)

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