Grazer Schauspielhaus: Das kuriose Universum eines Mathematikers

(c) Lupi Spuma
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Alexander Eisenach inszenierte üppig, aber etwas chaotisch "Die Frequenzen" nach Motiven von Clemens J. Setz. Wer den Roman nicht kennt, dem dürfte die Uraufführung einige Rätsel aufgeben. Insgesamt: vergnüglich.

Ein dottergelber Fiat kurvt im Kreis über die Bühne. Die Insassen bleiben im Schnee stecken. Der Vater und Fahrer lässt Frau und Sohn aussteigen – zum Anschieben. Als der Wagen wieder flott ist, fährt der Mann davon – und lässt seine Familie am Straßenrand stehen. „Ich ist ein Anderer“, dieses Zitat Arthur Rimbauds hat sich Clemens J. Setz zu Herzen genommen. In seinem Roman „Die Frequenzen“ (2009) sieht man u. a. den Dichter in dreierlei Gestalt: als Gott, der aus seinem „Work in progress“, der Schöpfung, vorträgt, als Walter, der von seinem mächtigen Architekten-Vater beinahe zu Tode gefördert wird – und als Alexander, der im Altenheim arbeitet.

Walter wie Alexander kommen wegen ihrer Vaterprobleme nicht zum Leben bzw. dieses muss trotzdem stattfinden. Der 1982 in Graz geborene Setz ist längst ein gefeierter Schriftsteller. Er hat Mathematik studiert, und an seinen Büchern werden nicht zuletzt jene eine Freude haben, die diese Wissenschaft jenseits der nackten Zahlen fasziniert, dort, wo sie sich ins Universum begibt, mit Dimensionen und Gravitationsfeldern verhandelt. Setz ist ein literarischer Netzwerker, der gern Labyrinthe baut. Seine Ideen kommen zu ihm aus seiner unmittelbaren Umgebung und aus dem Internet. Außerdem scheint er ein unverbesserlicher Romantiker zu sein, der, wie es Romantikern oft ergeht, von der Realität enttäuscht wird – und daher eine skeptische Schlagseite entwickelt hat.

Der Roman des gebildeten Flaneurs wirkt anfangs genial, ist später teilweise nicht ohne Mühe zu lesen, insgesamt aber originell. Das Grazer Schauspielhaus zeigt mit „Frequenzen“ nach Motiven aus dem Buch eine Uraufführung. Regisseur Alexander Eisenach, 1984 in Berlin geboren, hat etwas willkürlich Brocken aus dem Setz-Bergwerk gebrochen, um eine Geschichte, die bewusst nicht linear ist, schlüssig erzählen zu können. Das Ergebnis ist beachtlich, aber wer den Roman nicht wenigstens teilweise gelesen hat, dürfte verwirrt sein. Im Programmheft wird lang und breit erklärt, warum dieses Projekt sein musste.

Mehr Pragmatik als Kunst auf dem Bau

Im Grunde ist das überflüssig, denn die Aufführung ist mehr als ansehnlich, streckenweise sogar genial. Wer sich vom Theater gern um die eigene Achse drehen lässt, bis er nicht mehr weiß, wo vorn und hinten ist, wird diese Kreation schätzen. Mit Rotation beginnt auch der Abend. Der kleine Alexander bringt Bewegung in eine Gruppe Uralter mit verwitterten Masken und baut mit den wackeligen Greisen unser Sonnensystem. Danach findet ein boulevardeskes Beziehungskammerspiel statt, in dem Figuren immer wieder ihre Identitäten wechseln. Walter besucht seinen Architekten-Vater, der gar manchen Neubau (Fertigteilhäuser!) verpfuscht hat. Inzwischen hat sich der Architekt der Kunst zugewendet – und will auch seinen Sohn unbedingt dort unterbringen. Aber Walter weiß nicht, was er will. Er trifft die Psychologin Valerie, die ihn als Schauspieler für ihre Therapiegruppe engagiert, wo er einen Patienten spielen soll.

In einem der kaputten Häuser des großen Architekten wohnt Alexanders Familie. Der Vater, ein Lehrer, erforscht in seiner Freizeit die Risse im Keller. Kind Alexander fürchtet sich. Er spürt, dass es außer im baulichen auch im familiären Fundament kracht. Alexander verliebt sich in Valerie, er stört die Therapiegruppe, die zwei wollen in die Oper gehen. Valerie erscheint nicht.

Nach dem feinen Start zerfällt die Aufführung in ein Patchwork, das lose von Videosequenzen (Roland Horvath, Carmen Zimmermann) zusammengehalten wird. Diese Methode, die Frank Castorf früh perfektionierte, wirkt hier weniger grausam und entlarvend als bei ihm, sondern auch heiter und spielerisch. In Setz' chaotischem Lebenslabor gibt es viel Slapstick, einiges zu lachen, Kalauer („Setz-en Sie sich!“) und Musik: von Charles Trenets „La Mer“, der Ozean ist auch so ein unberechenbares Universum, bis „Space Oddity“ von David Bowie. Die Schauspieler werfen sich mit Lust auf dieses schillernde Gebilde aus Theorie, Sein- und Sinnsuche, aus Spekulationen und jener Realität, die stattfindet, während man – einem Spruch gemäß – auf die Erfüllung seiner Träume wartet. Wo ist Gott für eine Generation, die, oft hochgebildet, das Heil nicht mehr in der Religion, sondern in der Therapie sucht?

Sehnsucht nach Profit und Sinnlichkeit

Die 13-jährige Johanna Marauschek als Klein-Alexander setzt den Erwachsenen kräftig zu. Vera Bommer begeistert mit behändem Rollenwechsel, vor allem als arroganter Architekten-Vater. Evamaria Salcher erfreut als Intellektuelle auf der Suche nach Sinnlichkeit. Clemens Maria Riegler zeigt herrliches Impro-Theater als verliebter Alexander. Jan Brunhoeber zeichnet urkomisch einen entgleisenden Mimen, der lieber Otello oder Hamlet sein möchte als Schmierenkomödiant im Gesundheitswesen. Und Franz Xaver Zach bezaubert als abgeklärter Gott, der mürrisch Proust'sche Fragebögen ausfüllen muss und als verzweifelter Familienvater.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.03.2016)

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