Marcel Koller: "Ich kann es nicht jedem Recht machen"

SOCCER - AUT vs ALB, test match
SOCCER - AUT vs ALB, test matchGEPA pictures
  • Drucken

Teamchef Marcel Koller spricht zweieinhalb Monate vor Anpfiff der EM 2016 über Stress, Sorgen und die von ihm aufgestellten Spielregeln. Und er erklärt, wie die Wohlfühloase Nationalteam entstehen konnte.

Die Vertragsverlängerung hat der ÖFB-Spitze und Ihnen in den nächsten Wochen viele Fragen hinsichtlich der Zukunft erspart. Wie viel Druck, wie viel Ballast ist nach dieser Entscheidung von Ihnen abgefallen?

Marcel Koller: Für mich war die Belastung keine sonderlich große. Ich bin immer ruhig geblieben, auch als das eine oder andere Angebot eintraf. Es waren schließlich nicht meine ersten Verhandlungen als Trainer – und sie waren besser als bei meiner erstmaligen Verlängerung mit dem ÖFB 2013. Damals war auch die Presse mittendrin, da gerät man viel mehr unter Druck.

Was war ausschlaggebend für Ihre Zusage?

Wir haben uns in den Gesprächen gefunden, es war stimmig. Es gab keinen großen Grund, von hier wegzugehen, nichts, was mir gar nicht passte. Ich fühle mich wohl in Österreich, mit der Mannschaft und dem Betreuerteam. Wenn wir uns wiedersehen, dann tun wir das gern. So etwas spürt man.

Aber Sie wären nach der EM auf dem Markt so oder so nicht übrig geblieben...

Nein, es gab ja Anfragen. Aber die Situation und das Miteinander müssen passen. Das hat es in diesem Fall.

Die Europameisterschaft beginnt in zweieinhalb Monaten. Wie groß ist der Stress heute schon?

Es passt so, wie es ist, obwohl der Zeitrahmen doch sehr intensiv ist. Aber es ist auch eine schöne Zeit. Wir haben uns diesen Stress ja erarbeitet, deswegen werden wir jetzt nicht jammern. Hätten wir uns nicht qualifiziert, hätte ich einen verhältnismäßig ruhigen Sommer gehabt und mir in Frankreich ein paar Spiele angesehen. Es ist besser mittendrin zu sein, als im Stadion nur in der 20. Reihe zu sitzen.

Sie waren 1996 als Spieler bei der EM in England. Eine Erfahrung, die Ihnen als Teamchef 20 Jahre danach von Nutzen ist?

Es ist schon etwas völlig anderes. Als Spieler versuchst du, mit dir selbst klarzukommen. Als Trainer musst du auf alles achten. Ich weiß noch, dass ich mich damals extrem über die EM-Teilnahme gefreut habe. Ich habe alles aufgesaugt, konnte das Turnier genießen. Wenn du diesen Ansatz verfolgst, eine gewisse Lockerheit mitbringst, macht das die Sache etwas einfacher.

Wie viele Spiele der Ungarn, Portugiesen und Isländer haben Sie schon gesichtet?

Wir haben noch Vorbereitungsspiele auf die EM. Ich wollte nicht schon vorgreifen, habe mich deshalb zunächst intensiv auf die Spiele gegen Albanien und die Türkei vorbereitet. Nach dem Türkei-Spiel am Dienstag geht es langsam damit los, die EM-Gegner zu analysieren.

Fürchten Sie nicht, dass die Zeit knapp werden könnte?

Nein, ich hoffe doch nicht. Aber unter anderem deshalb kann ich nicht alle Termine rund um mich wahrnehmen.

Sie sehen in Ihrem Team großes Potenzial, aber wie gut spielt es jetzt schon? Wie viel Luft nach oben gibt es da noch?

Wir haben einen sehr guten Level erreicht, den wir nun festigen wollen. Nur so werden wir weiterhin oben mitspielen können. Wir dürfen nicht weniger tun, sondern müssen eher noch enger zusammenrücken, noch intensiver arbeiten. Wenn wir das tun, haben wir die Energie, um erfolgreich zu sein. Dann erzwingst du das Glück auch. Sobald einer denkt, er muss weniger tun oder kann ein bisschen für die Galerie spielen, bevor die Arbeit getan ist, dann schlägt es ganz schnell um.

Sie verfolgen eine klare Spielphilosophie. Könnte diese für die Konkurrenz irgendwann ausrechenbar werden?

Es gilt immer, Lösungen zu finden, dabei geht es viel um Taktik. Wenn der Gegner besser ist, dann müssen wir darauf reagieren. Dass eine Nationalmannschaft weniger Zeit als eine Klubmannschaft hat, um Dinge einzustudieren, macht es natürlich nicht einfacher.

Das Gros der Nationalmannschaft spielt bei den Klubs eine wichtige Rolle. Plagen Sie dennoch mitunter Sorgen, vielleicht wegen Martin Harnik, der in Stuttgart derzeit wenig spielt?

Sorgen wäre jetzt übertrieben formuliert. Ich weiß bei jedem Einzelnen, was er draufhat. Einmal spielt dieser Spieler weniger, dann wieder ein anderer. Fuchs hat bei Schalke am Schluss wenig gespielt, dafür ist er jetzt bei Leicester umso mehr im Einsatz. Harnik hat in Stuttgart eigentlich immer gespielt, jetzt spielt er seltener. Es wäre natürlich schön, würden alle immer spielen, im Rhythmus bleiben, aber vielleicht ist es auch ein Vorteil, dass mancher nicht überspielt ist. Vielleicht können sie bei der EM auf dem Platz mehr Hunger entwickeln, als wenn sie durch 60 Saisonspiele schon verbraucht sind.

Die Spieler sprechen gern von der Wohlfühloase Nationalteam. Wie ist diese überhaupt entstanden?

Grundsätzlich war die Idee, dass jeder gern zum Nationalteam kommt. Ich war selbst Nationalspieler und bin nicht immer gern zum Team gefahren. Umso mehr ist es mir als Teamchef ein Anliegen, eine angenehme Atmosphäre zu schaffen. Viele kleine Dinge sind mitentscheidend. Etwa, dass die Gruppe immer die gleiche ist, du gemeinsam eine Gesprächskultur entwickelst, die Spieler miteinander sprechen. Deswegen hat das Handy beim Essen auch nichts verloren. Ich sage meinen Spielern: „Sprecht miteinander, und wenn ihr nicht wisst worüber, dann sprecht über Fußball.“ Das betrifft nicht allein das Essen, auch während einer Busfahrt, die länger dauern kann, ist mir die Kommunikation wichtig. Bei uns ist alles luftig und locker, aber wenn es um das Wesentliche geht, sind wir voll bei der Sache. Diese Einstellung wird gelebt.

Sie verfolgen also auch abseits des Rasens eine klare Idee.

Wenn du Regeln vorgibst, aber einer hält sich nicht daran, dann musst du eingreifen. Niemand im Nationalteam hat einen Sonderbonus, jeder hat sich an die Regeln zu halten. Es ist egal, ob der Trainer, der Sportdirektor, der Zeugwart oder ein Spieler zu spät kommt – jeder hat in diesem Fall zu bezahlen. Wenn sich Einzelne als wichtiger empfinden als das Team, dann ist das für mich der falsche Ansatz.

Jede Ihrer Entscheidungen als Teamchef betrifft, etwas überspitzt formuliert, eine ganze Fußballnation. Wird Ihnen das manchmal bewusst?

So etwas darf mich nicht berühren. Ich kann es bei Nominierungen oder Aufstellungen nicht jedem recht machen. Natürlich hinterfrage ich mich nach Lehrgängen und Spielen auch selbst, überlege, ob ich anders hätte entscheiden sollen. Aber ich glaube, keiner hat so viel Einsicht und so viele Informationen über das Team wie ich.

Ist Ihre bald viereinhalbjährige Amtszeit als Teamchef gefühlt schnell oder langsam vergangen?

Das erste halbe Jahr langsam. Ich war zuvor immer Klubtrainer, war es gewohnt, die Spieler jeden Tag um mich zu haben. Deswegen habe ich sie beim Nationalteam anfangs auch vermisst. Ich bin im Büro gesessen und habe mir gedacht: Ich muss doch eigentlich auf den Platz. Diese andere, neue Arbeitsweise musste sich in meinem Kopf erst manifestieren. Aber unter dem Strich sind diese viereinhalb Jahre schnell vergangen. Sehr schnell sogar.

Auch deshalb, weil sich der Erfolg eingestellt hat und dadurch das Geschäft kurzweiliger wird?

Ich mache es auch gern, wenn es nicht erfolgreich ist, weil ich den Fußball liebe. Aber klar, wenn du mit deinem Klub im Abstiegskampf steckst, umgibt dich viel negative Energie, die dich auffrisst. Mit dem Erfolg kommt die Euphorie ins Spiel.

Wann waren Sie zuletzt zwei Tage am Stück nicht mit Fußball konfrontiert?

Im Urlaub. Aber der Fußball ist allgegenwärtig, du siehst Zusammenfassungen, verfolgst die Spiele der Legionäre. Es belastet mich jedoch nicht. Ich mache das alles gern.

Ertappen Sie sich manchmal dennoch dabei, wie Sie die Grenze des gesunden Ehrgeizes überschreiten?

Ja, ja. Ich merke es, wenn ich am Abend so richtig platt bin. Aber dann ist der Tag ja auch schon wieder zu Ende.

Steckbrief

Marcel Koller wurde am 11. November 1960 in Zürich geboren.

7 Meisterschaften und fünf Cuptitel nennt Koller sein Eigen, der Schweizer spielte in seiner Karriere ausschließlich für Grasshoppers Zürich.

Für das Nationalteam der Schweiz bestritt Koller 55 Spiele, zwei davon bei der EM 1996 in England. Danach beendete er seine aktive Laufbahn.

1997 begann Koller als Trainer zu arbeiten. Er betreute Wil, St. Gallen, Grasshoppers, Köln und bis 2009 Bochum.

Seit 1. November 2011 fungiert Koller als ÖFB-Teamchef. Vor knapp zwei Wochen wurde die Verlängerung seines Vertrags bis Ende 2017 bekannt gegeben.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.03.2016)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren

Gesetzt: Christian Fuchs ist unter Marcel Koller linker Außenverteidiger, Kapitän und Führungsspieler.
Euro 2016

Analyse: Das Problem kleiner Fußballnationen

Österreichs Nationalmannschaft hat zweieinhalb Monate vor Beginn der Euro einen funktionierenden Stamm, aber kaum adäquaten Ersatz. Allein ist man mit diesem Problem nicht.
Rubin Okotie gegen die Türkei
Euro 2016

ÖFB-Team: "Besser wir machen Fehler jetzt als bei der EM"

Die Teamspieler waren mit der Leistung grundsätzlich zufrieden und nahmen die 1:2-Niederlage gegen die Türkei als Ansporn zur Verbesserung.
Marc Janko mit Jugendlichen
Euro 2016

Team-Torjäger Janko trainiert mit Flüchtlingen

Marc Janko absoliverte eine Einheit mit minderjährigen Flüchtlingen. Als Laureus-Botschafter betonte er die gesellschaftliche Verantwortung.
Euro 2016

ÖFB-Team verliert EM-Test gegen die Türkei 1:2

Österreichs Fußball-Nationalmannschaft hat in der Vorbereitung auf die EURO 2016 einen Dämpfer hinnehmen müssen.
SOCCER - AUT vs TUR, test match
Kommentare

Kein Sündenbock gesucht

Die Niederlage gegen die Türkei darf nicht auf einen Tormann-Fehler reduziert werden.

Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.