Hahn: "Brauchen EU-Armee, um Freiheit zu schützen"

 EU-Kommissar Johannes Hahn im Gespräch mit „Presse“-Redakteur Wolfgang Böhm.
EU-Kommissar Johannes Hahn im Gespräch mit „Presse“-Redakteur Wolfgang Böhm.Stanislav Jenis
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EU-Kommissar Hahn verteidigt das Türkei-Abkommen. Nach der Flüchtlingskrise und den Terroranschlägen fordert er einen militärischen Schutz der Außengrenze.

Die Presse: Nächste Woche sollen die ersten Flüchtlinge aus Griechenland in die Türkei zurückgebracht werden. Was wird dort mit diesen Menschen geschehen? Amnesty International berichtet, dass die Türkei syrische Flüchtlinge gegen ihren Willen in Kriegsgebiete abschiebt.

Johannes Hahn: Wir haben mit der Türkei eine Vereinbarung, und Grundlage dieser Vereinbarung sind rechtsstaatliche Prinzipien. Ich gehe davon aus, dass die Türkei die internationalen Regeln und Verpflichtungen einhält. Wir werden solchen Berichten von NGOs natürlich trotzdem nachgehen.

Wenn sich Verfehlungen gegen das Asylrecht bestätigen, wird die EU dann die Rückführung in die Türkei stoppen?

Wir werden in diesem Fall klare Gespräche mit der Türkei führen müssen. Ich selbst war vor einigen Wochen in Ostanatolien und habe dort einige Flüchtlingscamps besucht. Die sind sehr ordentlich. Auch internationale Hilfsorganisationen haben mir bestätigt, dass die Türkei mit diesen Menschen korrekt umgeht. Wichtig ist, die Flüchtlinge in der Region zu halten, auch damit sie nach einem Friedensschluss in Syrien wieder rasch in ihre Heimat zurückkehren können. Da sie kulturell in diesem Raum verwurzelt sind, ist auch die Integration hier leichter möglich. Aber wie gesagt, wir werden dem Bericht von Amnesty nachgehen.

War das Türkei-Abkommen notwendig, oder war es nur eine Folge des Scheiterns der europäischen Zusammenarbeit?

Das primäre Ziel Europas muss es sein, seine Außengrenzen zu sichern. Das Abkommen soll dazu führen, dass der Flüchtlingsstrom kontrolliert wird. Es heißt ja nicht, dass wir die Möglichkeit für Flüchtlinge stoppen, nach Europa zu kommen. Wir trennen zwischen jenen, die Asyl brauchen, und jenen, die im Windschatten des Syrien-Konflikts aus wirtschaftlichen Gründen versuchen, in die EU zu kommen. Wir wollen das Schlepperwesen austrocknen und die Kontrolle darüber zurückgewinnen, wer nach Europa kommt und wer nicht. Das ist ein Gebot der Sicherheit.

Hat sich die EU in Abhängigkeit von der Türkei begeben?

Die Türkei muss ein Interesse an einer soliden Zusammenarbeit mit der EU haben. Für sie ist die EU in wirtschaftlicher und sicherheitspolitischer Sicht der einzig verlässliche Partner. Deshalb ist eine vertiefte Zusammenarbeit von gegenseitigem Interesse.

Ankara fordert im Gegenzug die Visumfreiheit. Ist die Angst berechtigt, dass dadurch mehr türkische Bürger in die EU einreisen und hier illegal bleiben werden?

Es gibt von uns festgelegte Kriterien für diese Visumfreiheit, die auch für die Türkei gelten. Diese muss sie erfüllen. Die Türkei verpflichtet sich im Gegenzug auch zu einer Rücknahme sowohl von Türken als auch von Drittstaatsangehörigen, die illegal in die EU eingereist sind. Letztlich kommt es auf die staatliche Kontrolle an. Eine Visumfreiheit erlaubt ja keinen ständigen Aufenthalt, sondern nur maximal drei Monate.


Und wie realistisch ist die zweite Forderung aus Ankara, die neue Dynamik beim EU-Beitritt?

Es gilt das, was bereits zu Beginn der Verhandlungen festgelegt wurde. Der Ausgang dieser Verhandlungen ist offen. Und es gibt klare Bedingungen. Es wird keine türkische Variante von Demokratie geben, die wir akzeptieren werden.

Aktuell entsteht eher der Eindruck, dass es bei Rechtsstaatlichkeit und der Pressefreiheit einen Rückschritt gibt.

Auch ich habe diesen Eindruck, und bereits unser Fortschrittsbericht vom November des Vorjahres hält dies in aller Klarheit fest. Die Türkei möchte Mitglied werden, aber Grundrechte wie Presse- und Meinungsfreiheit sind nicht verhandelbar. Die Türkei muss als Kandidatenland diese rechtsstaatlichen Prinzipien akzeptieren und respektieren.

Österreich hat in der Flüchtlingskrise Handlungen gesetzt, die nicht mit den EU-Partnern abgesprochen waren. Ist das richtig gewesen?

Es steht außer Frage, dass einzelne Länder – und Österreich zählt dazu – einem großen Druck ausgesetzt waren. Da war das Interesse derer, die nicht so betroffen waren, enden wollend. Daher kann es durchaus sein, dass manchmal ein Land Maßnahmen setzt, die dann letztlich doch zu einer europäischen Lösung führen. Am Ende sollte immer eine gesamteuropäische Lösung stehen.

Sie leben in Brüssel. Fühlen Sie sich nach den Terroranschlägen dort noch sicher?

Wenn Sie den ganzen Tag die Sirenen hören, irritiert das. Ich persönlich fühle mich dennoch nicht unsicher. Ich sehe die Situation eher als Herausforderung: Das ist eine neue Form der Bedrohung, auf die wir als Europa adäquat reagieren müssen.

Sie haben einmal gesagt, Europa muss allwettertauglich werden. Muss die EU neben ihrer Softpower auch eine militärische Absicherung entwickeln?

Wir sind als Europäische Union an einer Weggabelung angelangt. Die bisherige EU ist eine Schönwetterkonstruktion. Sie ist nach innen gerichtet und will das Zusammenleben verbessern, die wirtschaftliche Entwicklung fördern, was natürlich auch wichtig ist. Wir sind jedoch zu sehr auf uns bezogen.

Zu egozentrisch?

Bis zu einem gewissen Maß auch. Wir haben dadurch übersehen, wie sich die Welt außerhalb entwickelt hat. In dieser globalen Welt gibt es nicht nur Schönwetterperioden. Wir müssen uns die Frage stellen, ob wir eine lose Wirtschaftsgemeinschaft mit angeschlossener Reisefreiheit sein wollen oder doch eine europäische Konföderation mit einer Außen- und Sicherheitspolitik. Ich bin für Letzteres. Ein allwettertaugliches politisches Gebilde kann nicht nur eine Softpower sein, sondern muss auch eine Hardpower entwickeln. Deshalb werden wir nicht um eine gemeinsame europäische Verteidigungs- und Sicherheitsstruktur, inklusive Armee, herumkommen.

Was bedeutet das für Länder wie Schweden oder Österreich, die bisher einen paktungebundenen Weg gegangen sind?

Diese Diskussion wird zu führen sein. Es geht um Verteidigung, auch um eine wirksame Außengrenzsicherung. Wir müssen wieder die volle Kontrolle über unsere Außengrenzen erlangen. Wir müssen auch eine Verteidigungsstärke haben, um unseren Bürgern und Bürgerinnen Sicherheit zu geben. Sicherheit, um in Freiheit leben zu können.

ZUR PERSON

Johannes Hahn ist seit 2010 EU-Kommissar. Nachdem er bis 2014 für die Regionalpolitik zuständig war, hat er in der Kommission unter Präsident Jean-Claude Juncker die Nachbarschaftspolitik übernommen. Er ist auch für die Erweiterung der Union und somit für die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei verantwortlich. Der ÖVP-Politiker war vor seiner europäischen Tätigkeit Wissenschaftsminister, Mitglied der Wiener Landesregierung und Vorstandsvorsitzender der Novomatic AG.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.04.2016)

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