Alles Wälzer! Liebeserklärung an den dicken Roman

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BuchhandlungDie Presse/Clemens Fabry
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700-Seiten-Romane liegen derzeit im Trend. Schlecht? Keineswegs: Wir werden durch dicke Bücher zu den Lesern, die wir sind, nicht durch dünne. Durch die "Buddenbrooks", nicht durch den "Tod in Venedig".

Es begann, als wir noch Kinder waren. Mit Karl Mays „Durchs wilde Kurdistan“ etwa, das wir unter der Bettdecke lasen oder unter dem Pult, während die Eltern glaubten, wir schliefen, und die Lehrer einfach froh waren, dass wir den Unterricht nicht störten. Mit Michael Endes „Unendlicher Geschichte“ über einen traurigen Buben, der sich in eine Fantasiewelt rettet. Oder, für jene, die lesen lernten, als es schon den Begriff Jugendliteratur gab, mit den Bänden von Rowlings „Harry Potter“: 767 Seiten dick ist allein „Der Feuerkelch“, der „Orden des Phönix“ kommt auf über 1000 Seiten. So viel Stoff! So viel Zeit, die wir damit verbrachten.

Wir alle wurden durch die dicken Bücher zu den Lesern, die wir sind, nicht durch die dünnen. Durch Cornelia Funkes „Tintenherz“-Trilogie – nicht durch „Gregs Tagebuch“. Durch die „Buddenbrooks“, die der Lektor des S.-Fischer-Verlags damals glatt auf die Hälfte kürzen wollte – und nicht durch Thomas Manns „Tod in Venedig“.

Sucht, nicht Zeitvertreib. Das ist natürlich keine Frage der Qualität, manch schmales Werk ist weit reicher als ein dickes, Robert Seethalers „Ein ganzes Leben“ oder Monique Schwitters „Eins im Andern“ sicher nicht weniger großartig als so mancher Wälzer des an Wälzern keineswegs raren letzten Jahres: Über 1000 Seiten zählen etwa Clemens Setz' „Die Stunde zwischen Frau und Gitarre“, Guntram Vespers „Frohburg“ und Frank Witzels „Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969“. Der neue Band von Thomas Glavinic – „Der Jonas-Komplex“ – nimmt sich dagegen mit 752 Seiten nachgerade bescheiden aus, genauso wie Dževad Karahasans „Der Trost des Nachthimmels“ (726 S.) oder Juli Zehs „Unterleuten“ (639 S.).

Schwarte, Schinken, Ziegel. Nein, es geht nicht um Qualität! Trotzdem sind dicke Bücher etwas Besonderes. Sie machen uns bewusst, dass Lesen nicht nur Zeitvertreib ist, nicht nur der Zerstreuung oder der Bildung dient, sondern auch Sucht ist: Der Wälzer fesselt uns ans Sofa, an den Sessel, ans Bett, wo immer wir am liebsten lesen, und dort bleiben wir, während draußen die Sonne scheint oder längst untergegangen ist. 112 Seiten dagegen – die kosten uns keinen Schlaf.

Vielleicht hat das dicke Buch deshalb auch so einen schlechten Ruf, vielleicht hat man ihm deshalb lauter abwertende Namen gegeben: Wälzer, Schmöker, Ziegel, Schwarte. Der Verdacht, der damit ausgedrückt wird: Da hält uns etwas von vernünftigerem Tun ab, raubt uns Lebenszeit. Oder anders herum: Dass wir überhaupt die Muße haben, so viel zu lesen, macht uns verdächtig. Und tatsächlich gibt es Lebenssituationen, die uns so fordern, dass wir die dicken Bücher zwischendurch vergessen. Vergessen müssen. Aber wir kommen verlässlich wieder zu ihnen zurück.

Seinen Kritikern dagegen kann das dicke Buch rein gar nichts recht machen: Denn entweder ist es leicht zu lesen, ein sogenannter Pageturner. Dann, so die Vermutung, kann es mit der Qualität nicht weit her sein, dann ist das Werk zu seicht und verführt uns nur zur Weltflucht (und wenn die Weltflucht gar nichts so Übles wäre? Wenn es in Ordnung wäre, für diese Stunden zu vergessen, dass die Kaffeemaschine zu entkalken wäre, die Oma im Spital liegt und Bundespräsidentenwahlen anstehen?).

Oder aber – das ist der entgegengesetzte Vorwurf – das Buch ist so dick und dicht, dass es als schwer verdaulich gilt, eine richtige Schwarte eben: Wer hat schon Musils „Mann ohne Eigenschaften“ fertig gelesen? Wer Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit?“ Und wer bringt, außer unserem Rezensenten natürlich, Witzels abenteuerlich inkohärentes Mammutwerk zu Ende?


Vertraute Figuren. Warum aber ist es wichtig, dass es dicke Bücher gibt? Da einem oft erst ab ein paar Hundert Seiten die Figuren so richtig vertraut sind. Manchmal sind sie einem dann so ans Herz gewachsen, dass man zu wissen glaubt, wie es ihnen weiter ergehen wird, nach Abschluss des Buches: dass etwa Tom und Anabel aus Jonathan Franzens 800-Seiter „Unschuld“ leider auch diesmal nicht werden voneinander lassen können.


Süß und bitter.
Da die Erklärung geschichtlicher Prozesse eben manchmal Platz braucht: Guntram Vespers „Frohburg“ hat heuer den Leipziger Buchpreis gewonnen, weil er eben bei seiner Beschreibung und Beleuchtung des Osten Deutschlands wie kaum einer vor ihm ins Detail geht. Beobachtungen, Erinnertes, Erzähltes, Nachgelesenes, Imaginiertes: Wäre dieser Roman kürzer ausgefallen, hätte er seinen Zweck verfehlt.

Da das Gefühl, wenn man einen Wälzer ausgelesen hat, so süß wie bitter ist: Süß, weil man es geschafft hat, weil mehrere Hundert Seiten hinter einem liegen. Bitter, weil eben mehrere Hundert Seiten hinter einem liegen und keine einzige mehr übrig ist.

Da man nicht alle Bücher mag, und es manchmal dauert, bis man wieder eines für sich entdeckt, das sich für die Weltflucht eignet. Wenn alle Romane nur 100 bis 200 Seiten hätten, man wäre ununterbrochen auf der Suche nach dem nächsten guten Stoff.

Dann lieber hin und wieder eine ordentliche Dosis.

Die Wälzer des letzten Jahres:

Das Leben – ein Roman

Insgesamt über 4000 Seiten. Karl Ove Knausgårds Lebenskampf.

Ein dickes Buch im Leben zu schreiben mag ja angehen. Aber in wenigen Jahren sechs Schmöker mit jeweils weit über 500 Seiten – das ist eine Zumutung. Ein Schreib-Berserker, dieser Karl Ove Knausgård. Zumal es sich um eine schonungslose Autobiografie handelt. Der fünfte Band, „Träumen“, erschien Ende 2015. Da muss sich einer schon sehr wichtig nehmen! Dass dieser Vorwurf von der Literaturkritik kaum erhoben wurde, hat damit zu tun, dass Knausgård nicht sehr freundlich über sich berichtet. Es ist vielmehr eine Abrechnung: Er trinkt zu viel, ist deshalb aggressiv und unberechenbar, leidet an Minderwertigkeitskomplexen, betrügt seine Frau und bringt nichts zustande. Kein wirklich netter Zeitgenosse. Doch Seelenstriptease ist das eine, lebende Personen zu verunglimpfen etwas anderes. Die Leserschaft dürfte aber gerade die Echtheit an Knausgårds Büchern fasziniert haben. Anscheinend lässt der Verlust an Wirklichkeit (Stichwort Digitalisierung) die Sehnsucht nach einem vorgeblich Authentischen blühen. Dass die Bücher kaum (zum Kunstwerk) gestaltet sind, war denn auch einer der Vorwürfe der Literaturkritik.

Märchen über einen Mathematiker

726 Seiten. Dževad Karahasan entführt uns ins alte Isfahan.

Ist die Welt bereit für die Wahrheit? Oder hält man besser mit seinem Wissen hinterm Berg? Sind Kompromisse etwas für Weichlinge? Und wie wichtig sind religiöse Werte für einen Staat? Dževad Karahasan erzählt in seinem jüngsten Roman „Trost des Nachthimmels“ von Omar Khayyam, einem Mathematiker und Astronomen aus dem 11. Jahrhundert, der am Hof von Schah Malik I. der Macht sehr nah war. Nah genug jedenfalls, um die Umwälzungen seiner Zeit präzise beobachten zu können. Eine Sekte überzieht das Land mit Terror, die Herrscher können sich auf kein gemeinsames Vorgehen einigen bzw. bekämpfen einander, die Bevölkerung flieht oder erstarrt vor Angst.

Das kommt einem bekannt vor? Aber man muss gar keine Parallelen zur Gegenwart bemühen und kann den Roman auch als berührendes Porträt eines Mannes lesen, der an die Wissenschaft glaubt, der versucht, mit den Handreichungen der Logik die Probleme des Lebens zu lösen – was aber nicht immer gut geht. Am Ende tröstet ihn, dass man zumindest die Bahn der Sterne verlässlich vorausberechnen kann.

Eleanor Catton führt ins 19. Jahrhundert

1040 Seiten. "Die Gestirne" sind prallvoll mit Neuseeland.

Eleanor Catton (*1985) hat mit ihrem zweiten Buch den Man Booker Prize gewonnen, als bisher jüngste Autorin mit dem bisher dicksten Buch. Die Neuseeländerin verdient den renommierten Preis zu Recht. Dieser historische Roman über die Zeit des Goldrausches in ihrer Heimat vor 150 Jahren ist eine raffinierte Nachahmung viktorianischer Erzähltugenden – eine Liebesgeschichte, ein Thriller, prallvoll mit Figuren und Geheimnissen. Catton kann Spannung erzeugen, selbst wenn ihre gewählte Sprache zuweilen gestelzt und der Einsatz von Tierkreiszeichen und Planeten, von Sonne und Mond konstruiert wirkt.

„Die Gestirne“ ist ein fettes Abenteuer für gefräßige Leser, ab dem Augenblick, in dem der Schotte Walter Moody an der Westküste der Südinsel in der erst einige Jahre alten Stadt Hokitika im Crown Hotel auf zwölf geheimnisvolle Männer trifft. Er hört ihren Storys zu. Man darf raten, wer von diesem multikulturellen Dutzend glaubwürdig ist und was mysteriöse Frauen zur Aufdeckung eines Verbrechens beitragen. Steht es in den Sternen?

Stalker, Sexstreuner und Non-Sequitur

1020 Seiten. Setz-Roman zwischen Psychopuzzle und Feuchtgebieten.

Natalie Reinegger ist 21 Jahre alt und arbeitet in einer Wohngemeinschaft für psychisch Kranke. Als „Bezugsbetreuerin“ des schwer zugänglichen Klienten Alexander Dorm wird sie Teil eines undurchsichtigen Arrangements, über das sich auch ihre Kolleginnen nur in vagen Andeutungen ergehen. Denn Dorm wird regelmäßig von Christoph Hollberg besucht, den er Jahre zuvor so lange mit seiner Stalker-Liebe verfolgt hat, bis Hollbergs Frau Selbstmord beging. Natalie sucht in dieser ungesunden Beziehung, deren Teil sie längst geworden ist, nach Opfer und Täter. Hat sie keinen Dienst, bekämpft sie ihre Einsamkeit mit Tabletten, nächtlichen Streifzügen, in denen sie fremden Männern Sex anbietet, und E-Mail-Wechseln mit dem Exfreund.

Clemens J. Setz packt in „Die Stunde zwischen Frau und Gitarre“ dicht an dicht ein Psychopuzzle in einer so noch nicht erzählten Umgebung, eine überfrachtete Hauptfigur mit „Feuchtgebiete“-Anklängen und legt über alle Handlungsstränge hinweg freie Assoziationen, die er Non-Sequitur nennt.

Thomas Glavinics Alter Ego braucht Platz

752 Seiten. Im neuen Roman "Der Jonas-Komplex" begegnet uns eine Figur auf dreierlei Weise: als pubertierender Knabe, als kokainsüchtiger Schriftsteller – und als Held.

Wie gut, dass Thomas Glavinic kein schmales Bändchen veröffentlicht hat: Denn nach 150 Seiten ist man von „Der Jonas-Komplex“ zunächst eher enttäuscht. Will man wirklich davon lesen, wie sich ein nicht mehr ganz junger Schriftsteller in Rom bei einem rechtsradikalen Hooligan mit Koks eindeckt? Und wie er dann im Drogenrausch mit der Vespa rund um die Piazza Navona kurvt? Wie soll das interessanter als die Suffgeschichten der Alten sein, die uns in ihrer Mischung aus Größenselbst und Selbstmitleid immer schon gelangweilt haben?

Aber: Das ist ja nur einer von drei Erzählsträngen. Ein zweiter gilt dem Buben, gerade dreizehn Jahre alt, der einem rasch ans Herz wächst, wie er da träumend, Schachpartien studierend und Milchbrot verzehrend seine Nachmittage vertrödelt. Ein dritter Strang gilt Jonas, den wir schon aus Vorgängerromanen kennen. Er war in „Das größere Wunder“ eine Art Fantasie der Männer von sich selbst: So unverwundbar, so tollkühn, so erfindungsreich, so seelenvoll ist dieser Jonas – und so geliebt! Auch diesmal darf er allerhand Abenteuer erleben. Dreimal dürfen Sie raten, wie sie ausgehen.

Aber zurück zum Icherzähler, diesem kokainsüchtigen, den eigenen Trieben hilflos ergebenen Schriftsteller, der wieder einmal deutlich die Züge Thomas Glavinics trägt, auch wenn uns der Autor in einigen überzogenen Passagen deutlich macht, dass er nicht mit ihm verwechselt werden möchte: Wenn wir uns die Lesezeit nehmen, werden wir diese Figur nämlich doch mögen lernen, samt ihren Eitelkeiten. Vielleicht auch, weil sie einmal der dreizehnjährige Bub war – und sich wünscht, sie könnte ein bisschen wie Jonas sein. (Fischer-Verlag). best

Die manische Neuerfindung des Romans

819 Seiten. Frank Witzel deutet schon mit dem Titel seines Siegerromans beim Deutschen Buchpreis an, was er da vorhat: nämlich sich und vor allem den Lesern alles abzuverlangen.

Die Mutter aller dicken Bücher der Generation X, Y und whatever ist wahrscheinlich „Infinite Jest“ von David Foster Wallace. Das Buch hat bei seinem Erscheinen 1996 in die amerikanische Literaturlandschaft eingeschlagen wie ein Komet, Autoren von Jeffrey Eugenides bis Jonathan Franzen reden seither über den Einfluss von Wallace' 1000-Seiten-Ziegel auf ihr Schreiben.

An dieses Literarisch-aufs-GanzeGehen erinnert „Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch depressiven Teenager im Sommer 1969“ des deutschen Autors, Zeichners und Musikers Frank Witzel. Doch wo Wallace stets fotorealistisch bleibt, entscheidet sich der Träger des Deutschen Buchpreises von 2015 für ein durch und durch abstraktes Textgebilde. Nie kann sich der Leser sicher sein, ob da der 13-jährige Erzähler spricht, der ein besonderes Verhältnis zu einer (nicht der!) RAF pflegt, wenn ja, wie alt er ist und ob gerade zwangspsychiatriert, im Polizeiverhör oder entwachsen erwachsen auf alles zurückblickt. Wer ist der Fabrikant? Der Vater? Die Frau von der Caritas? Claudia und Gernika?

Witzel führt den Leser durch ein literarisches Spiegelkabinett, in dem der Ausgang nicht zu finden ist. Kaum wähnt man sich dem Ich-Erzähler auf den Fersen, findet man sich z. B. in einem seitenlangen Interview wieder, das vom Magazin „Patapsychophysique“ mit einem obskuren Psychoanalytiker geführt wird, der auch . . . sein könnte. Näher lässt Witzel den Leser nie kommen. Hat man das einmal akzeptiert (und das dauert seine Zeit), folgt man gern falschen Fährten, rennt gegen Glasscheiben, die doch Spiegel sind, und lauscht einer Sprache, die Bilder entstehen lässt, bevor man noch eine Ahnung hat, was das alles soll. fa

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.05.2016)

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