Ukraine: Nervenkrieg um Häftlingsaustausch

Durchatmen vor dem Auftritt: Ex-Häftling Nadja Sawtschenko mit Morgenkaffee und Zigarette am Dienstag vor der Kiewer Rada.
Durchatmen vor dem Auftritt: Ex-Häftling Nadja Sawtschenko mit Morgenkaffee und Zigarette am Dienstag vor der Kiewer Rada.(c) REUTERS (GLEB GARANICH)
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Die freigelassene Pilotin Nadja Sawtschenko war nur die prominenteste Polit-Gefangene. Sie will sich nun für andere Ukrainer einsetzen, die in Russland hinter Gittern sitzen.

Moskau/Kiew. Ihr Gang war zackig, ihre Rede angriffslustig. Nadja Sawtschenko, die vor einer Woche gegen zwei Russen ausgetauschte ukrainische Pilotin, erinnerte die Abgeordneten gestern im Kiewer Parlament an den Konflikt im Landesosten. „Ich bin zurück und werde nicht zulassen, dass ihr, die ihr in den Sesseln in der Rada sitzt, auf die Burschen vergesst, die im Donbass kämpfen“, sagte die 35-Jährige, die während ihrer Haft in Russland zur Abgeordneten von Julia Timoschenkos Vaterland-Partei ernannt wurde. Sawtschenko, die sich nun für andere Häftlinge einsetzen will, ist wegen ihres kompromisslosen Verhaltens in ihrem fragwürdigen Prozess zu einer Nationalheldin geworden.

Das Thema Gefangene ist trotz Sawtschenkos Freilassung aus ukrainischer Sicht nicht erledigt. Wie ihr Anwalt Ilja Nowikow im Gespräch mit der „Presse“ erklärt, würden in russischen Gefängnissen derzeit zwölf Ukrainer aus politischen Gründen festgehalten. Etwa der proukrainische Filmregisseur Oleg Sentsow, zu 20 Jahren Haft verurteilt, weil er einen Anschlag geplant haben soll. Zusätzlich zählen ukrainische Behörden auf der von Russland vor mehr als zwei Jahren annektierten Krim 35 weitere Fälle. „Sie alle muss man als politische Häftlinge betrachten“, sagt Nowikow. Häufig wird den Betroffenen Extremismus, Terrorismus oder Separatismus vorgeworfen – doch Experten halten Prozesse wie Urteile für fragwürdig. Die Ukraine spricht gar von „Geiselnahme“.

Anwalt Nowikow hält es indes für möglich, dass auch die anderen Fälle nach dem „Modell Sawtschenko“ gelöst werden: zunächst Verurteilung, dann Begnadigung und Austausch gegen in der Ukraine festgehaltene Russen. Die beiden Ukrainer Jurij Soloschenko und Hennadij Afansjew sollen bereits ihr Begnadigungsgesuch verfasst haben, hieß es gestern. Fraglich ist, ob alle Fälle schnell gelöst werden. Man müsse bedenken, so Nowikow, dass Russland „nicht so interessiert wie die Ukraine an einem Austausch“ sei.

Während Kiew versucht, das Thema „Gefangene in Russland“ maximal an die Öffentlichkeit zu bringen, vermeidet es Moskau. Sawtschenkos Freilassung hinterließ in Russland notgedrungen einen sonderbaren Eindruck, schließlich war sie monatelang von den Medien als „Mörderin“ gebrandmarkt worden. Im Fall der Pilotin habe der Druck europäischer und amerikanischer Politiker maßgeblich zu ihrer Freilassung beigetragen, so Nowikow: „Ab einem gewissen Moment hatte Putin keine andere Wahl mehr.“

Anders gelagert sind die Fälle „echter“ Kriegsgefangener – Kombattanten, die von den Konfliktparteien festgehalten werden. Obwohl im Minsker Abkommen der Austausch „aller gegen alle“ niedergeschrieben ist, wurde dieser noch nicht vollzogen. Das Thema gilt als eines der zähesten im Rahmen der Verhandlungen zwischen Kiew und den prorussischen Separatisten. Nur hin und wieder werden ein paar Gefangene überstellt. Insider sprechen von einem „zynischen Menschenhandel“.

„Alle gegen alle“ klappt nicht

Einerseits werden aufgrund des andauernden Krieges in der Ostukraine – in der letzten Woche starben 16 ukrainische Soldaten – immer wieder neue Gefangene gemacht. Für einen Austausch wäre die Einstellung der Kämpfe nötig. Zudem beschuldigen beide Seiten einander, mit falschen Zahlen zu operieren. Die lettische Abgeordnete Nellija Kleinberga spricht in einem unlängst veröffentlichten Bericht für die Parlamentarische Versammlung des Europarats von 123 von den Separatisten festgehaltenen ukrainischen Bürgern, 77 davon Soldaten, der Rest Zivilisten. Die Separatisten behaupten ihrerseits, Kiew halte 458 Kämpfer gefangen.

Besonders undurchsichtig ist die Lage im Separatistengebiet. Anders als auf der ukrainisch kontrollierten Seite lassen die dortigen Behörden das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) nicht zu den Kriegsgefangenen vor. „Bis heute ist uns ein systematischer Zugang leider verwehrt“, sagt Ariane Bauer, Leiterin des IKRK-Büros in Donezk. Zu den Bedingungen des IKRK gehört, dass es ohne Zeugen mit den Gefangenen sprechen sowie sie wiederholt besuchen darf. Das Thema Gefangenenaustausch wird die Ukraine und Russland wohl noch länger beschäftigen. Ariane Bauer dazu: „Es ist immer eine Aktivität, bei der man einen langen Atem benötigt.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.06.2016)

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