Auf Selbstkritik wurde im ÖFB vor der Euro verzichtet. Ein Versäumnis, das nun zur Enttäuschung führte.
Böse Zungen könnten nun behaupten, die Fußball-EM kommt für Österreich zu spät. Exakt ein Jahr, nachdem in der Qualifikation Russland in Moskau mit 1:0 bezwungen wurde, erlebte das Team zum EM-Auftakt gegen Ungarn eine bitterböse Enttäuschung. David Alaba ausgenommen, standen am 14. Juni 2015 mit Anpfiff dieselben Spieler auf dem Rasen wie am 14. Juni 2016 in Bordeaux, allein – es war eine völlig andere Mannschaft.
Allerdings, das ist erschreckend, sie war wiederzuerkennen, weil sie schon in den vergangenen Monaten nicht mehr wie gewünscht funktionierte. Es hat sich etwas eingeschlichen beim Nationalteam, nur wahrhaben wollte das (fast) niemand. Form, Abstimmung, Vertrauen, Selbstverständnis, Einsatz, Willen – von all dem ist etwas verloren gegangen. Julian Baumgartlinger erkannte nach dem Ungarn-Spiel als Einziger die Situation, sagte erfrischend ehrlich: „Wir müssen in der Realität ankommen.“
Schwache Tests wurden schöngeredet, es wurde ohne personelle Konsequenz gute Miene zum bösen Spiel gemacht. Aber nur wer Fehler erkennt, kann aus diesen lernen. Nicht die Fans, sondern vielmehr der Teamchef und seine Spieler sahen die Leistungen vor der Euro weiterhin nur durch die rot-weiß-rote, die rosarote Brille. Aber wo ist der Sinn für Realität geblieben? Zwischen dem 1:0 von Moskau, dem 4:1 von Stockholm und dem 0:2 von Bordeaux liegen tatsächlich Welten.
Dem ÖFB-Team bleibt nicht mehr viel Zeit, um bei dieser EM wieder in die Erfolgsspur zurückzufinden. Die Latte, die es sich selbst als Nummer zehn der Weltrangliste gelegt hat, ist hoch – sie scheint kaum überwindbar. Etliche Spieler, bei Martin Harnik angefangen, haben nicht mehr die Form aus dem Vorjahr, sie schleppten obendrein Probleme und Verletzungen (Janko, Dragović) von ihren Klubs ins Team mit. Marcel Koller, und das war immer eine seiner Stärken, vertraute ihnen dennoch. Doch was, wenn Vertrauen über einen längeren Zeitraum nicht mit Leistung gerechtfertigt wird? Dann wird auch aus vermeintlichen Stärken schnell eine eklatante Schwäche.
Gegen Ungarn ließ Österreich so viel vermissen, mitunter auch die richtige Körpersprache. Sie war bei vielen Spielern negativ behaftet, allen voran Marko Arnautović. Ausgerechnet Arnautović, der in den Tests noch als bester und gefährlichster ÖFB-Kicker aufgetreten war. Er konnte die Euro kaum noch erwarten, versprach Herz und Leidenschaft. Mit Fortdauer des Spiels aber verfiel der 27-Jährige in alte Muster, die er doch eigentlich schon abgelegt geglaubt hatte. Er haderte, schimpfte, provozierte. Auch, weil ihm wenig bis nichts gelang. Das ÖFB-Team hat gegen Portugal vieles gutzumachen – es ist die vielleicht schon letzte Chance bei dieser EM.
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("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.06.2016)