„Ein ganzes halbes Jahr“: Kuriert man so den Todeswunsch?

(c) Warner/ Alex Bailey
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Die Bestsellerverfilmung „Ein ganzes halbes Jahr“ drückt beharrlich auf die Tränendrüse. Die Liebesgeschichte thematisiert auch Sterbehilfe. Darum gab es Proteste.

Man wüsste gern, ob die Augenbrauen der Hauptdarstellerin, Emilia Clarke, für die melodramatische Romanze „Ein ganzes halbes Jahr“ eine eigene Gage erhalten haben. Denn diese Augenbrauen stehlen die Show. Beim Gesichtsausdruck „Fragend“ werden sie so hoch gezogen, dass sie fast am Haaransatz verschwinden. Beim Lächeln schieben sie sich auseinander, beim Sprechen hüpfen sie auf und ab, ziehen sich zusammen, formen sich zu Wellen! So will die Schauspielerin einem Wesenszug ihrer Figur Ausdruck verleihen: Sie ist lebhaft! Da schlagen die Augenbrauen eben ab und zu aus. Louisa Clark heißt die Figur. Woran man den Elan der 26-Jährigen auch erkennt: Sie zieht sich extravagant an: wild gemusterte Spangenschuhe zu knalligen Strumpfhosen, im Haar Schmetterlingsspangen.

Neue Lebensfreude für Unfallopfer

Weil das Café in dem verschlafenen englischen Örtchen, in dem sie als Kellnerin arbeitet, zusperrt, braucht sie einen neuen Job – sie muss ihre ebenso quirlige Familie unterstützen. So nimmt sie eine Stelle als Pflegerin an: Sie soll sich um Will Traynor (Sam Claflin) kümmern, einen feschen, reichen, jungen Mann, der seit einem Unfall vom Hals abwärts gelähmt ist. Der grantelt im zur Designerwohnung umgebauten Pferdestall auf dem Landgut seiner Eltern vor sich hin. Dort soll ihm Louisa, so die Absicht von Wills Mutter (Janet McTeer), wieder Lebensfreude beibringen. Der hat seiner Mutter versprochen, dem Leben noch sechs Monate lang eine Chance zu geben, bevor er in der Schweiz, wo dies erlaubt ist, Sterbehilfe in Anspruch nehmen will. Nach anfänglichem Widerstand öffnet sich Will den Aufmunterungsversuchen der jungen Frau, und die Funken fliegen . . .

Weniger vorhersehbar als die Gefühle, die die Hauptfiguren füreinander entwickeln, ist Louisas Garderobe. Die ist unkonventioneller als die Inszenierung der Regisseurin Thea Sharrock, die mit der Verfilmung des Bestsellers der Britin Jojo Moyes ihr Spielfilmdebüt vorlegt. Sharrock setzt auf lange Einstellungen und viele Großaufnahmen der Gesichter, damit dem Zuseher ja keine Gefühlsregung entgeht. „Ein ganzes halbes Jahr“ ist zwar auch in Buchform ein kalkuliertes Melodram, das mit voller Absicht auf die Tränendrüse drückt, allerdings sind die Hauptfiguren mehr ausgestaltet. Geschildert aus Louisas Perspektive, taucht der Roman tiefer in ihre Gefühlswelt ein als der Film. In diesem erfahren wir wenig außer dem Offensichtlichen: Louisa mag Mode, und Will würde gern wieder von Klippen springen (seinen Unfall hatte er allerdings im Straßenverkehr, so kommt kein hässlicher „Selbst schuld“-Gedanke im Zuseher auf).

In gelungenen Liebesgeschichten wachsen die Figuren am jeweils anderen, auch „Ein ganzes halbes Jahr“ geht nach diesem Muster vor. Will, ganz Weltmann, zeigt Louisa Filme mit Untertiteln. Durch ihn öffnet sie sich für Reisen und klassische Musik. Er lockt Louisa aus ihrer Komfortzone, indem er sie drängt, Neues auszuprobieren. Sie habe Potential, wird ihr ständig aus ihrem Umfeld bescheinigt – um es ausnützen zu können, muss sie egoistischer sein, erklärt Will immerzu. Sie soll nicht für andere leben – das lernt sie ausgerechnet dadurch, dass sie sich für jemanden anderen engagiert. Denn durch sie kann Will sein Leben wieder als schön empfinden. Zumindest zum Teil. „Ein ganzes halbes Jahr“ ist nicht nur Liebesgeschichte, sondern beschäftigt sich auch mit dem Thema Selbstmord als Ausdruck persönlicher Freiheit. Behindertenverbände in Großbritannien liefen deshalb Sturm gegen „Ein ganzes halbes Jahr“. Vor der Premiere in London gab es sogar Proteste.

Behindert und arm? Nichts fürs Kino!

Die Sorge, der Film stelle das Leben Behinderter als nicht lebenswert dar, ist unbegründet. Für den Zuseher ist Wills Wunsch zu sterben schwer nachzuvollziehen. Im Roman ist der gelähmte junge Mann häufig krank und hat starke Schmerzen. Im Film leidet der in seiner Mimik weniger exaltierte, trotzdem ausdrucksstarke Jungstar Sam Claflin zu schön, als dass wir ihm seinen Todeswunsch abkaufen könnten. Für Außenstehende sieht Wills Leben nicht schlecht aus. Insbesondere, weil er reich ist und sich viel Komfort leisten kann, der anderen versagt bleibt. In dem thematisch ähnlich gelagerten französischen Film „Ziemlich beste Freunde“ – einer Buddy-Komödie, keinem Melodram – ist die Hauptfigur ebenfalls wohlhabend. Behindert und arm: Das wäre vielleicht doch zu deprimierend für die breite Masse.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.06.2016)

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