Warum Austritte und Reformen die EU nicht sanieren werden

A European Union flag
A European Union flag(c) REUTERS (Paul Hackett)
  • Drucken

Brexit ist zum Synonym einer absolut sinnlosen Diskussion geworden, die hoffentlich bald ein Ende nimmt. Weil sie die wahren Probleme nicht nennt.

Das Leben ändern. Wer hat noch nicht daran gedacht? Wer hat noch nicht die Familie infrage gestellt, sie für persönliches Leid und mangelnde Freiheit verantwortlich gemacht? Es ist eine eingelernte Reaktion, immer das Umfeld, die Institutionen des gesellschaftlichen Zusammenlebens zu schelten, statt die Ursachen bei sich selbst zu suchen.

Wofür im Kleinen die Familie herhalten muss, ist im Großen die EU. Sie wird derzeit für so ziemlich alle Verwerfungen verantwortlich gemacht: für die Finanz- und Schuldenkrise, für die Ukraine-Krise, für die Flüchtlingskrise, für Verteilungsungerechtigkeiten. Natürlich haben all diese Probleme einen Zusammenhang mit ihr, doch eben nicht jenen ursächlichen, der ihr angelastet wird. Das ist der Grund, warum ein Austritt auch nichts ändern würde. Die EU, um es auf den Punkt zu bringen, ist als Institution mit Einzelinteressen nicht fertiggeworden. Ob es die Finanzwirtschaft war, reformunwillige Parteien, individuelle Machtgelüste oder Kriege in ihrer Nachbarschaft. Sie hatte nicht mehr die Kraft, Fehlentwicklungen durch gemeinsames Agieren ein Ende zu setzen.

Nach dem Brexit-Referendum wird viel über eine Reform der EU geschrieben und gesprochen: Sie soll sich nur noch auf das Wesentliche konzentrieren, sagen die einen. Sie soll in wichtigen Bereichen endlich mehr Macht erhalten, sagen die anderen. Das Problem selbst wird nicht angesprochen: Die EU wird immer nur so stark sein, wie es ihre Mitglieder zulassen. Sie nährt sich an einem gemeinschaftlichen Geist. Nimmt dieser ab, sinkt auch ihre Kraft. Und dieser Geist nimmt derzeit dramatisch ab. Nirgendwo ist das deutlicher geworden als bei der Migrationskrise. Dieses Problem wäre gemeinsam lösbar gewesen, doch bis heute streiten die Mitgliedstaaten über eine Aufteilung von Flüchtlingen, über die Aufstellung eines gemeinsamen Grenzschutzes, sie halten nationale Beiträge für Hilfsfonds in Nordafrika und Syrien zurück. Diese Krise ist Beleg für einen überbordenden nationalen Egoismus, für kurzsichtige, populistische Politik. In Großbritannien wurde im Brexit-Wahlkampf die Flüchtlingskrise als latente Gefahr für die Insel dargestellt und als Grund, die EU zu verlassen. Kurioserweise hat London bei allen Fragen der inneren Sicherheit und somit auch im Asylwesen ein sogenanntes Opt-out. Das Land nimmt daran überhaupt nicht teil. Die Aufteilungsquoten etwa hätten für Großbritannien nie gegolten. Es war nichts als eine produzierte Erregung.

Der bei näherer Betrachtung weit übertriebene Vorwurf, die EU sei nicht demokratisch, lässt auch in Österreich Bürger glauben, ein nationaler Alleingang wäre besser. Dabei wird aber nie überlegt, welche neuen Abhängigkeiten und welch letztlich völlig undemokratischen Nachvollzug von Regeln Kleinbritannien oder Kleinösterreich absolvieren müsste, um sich selbstständig in einer globalisierten Welt über Wasser zu halten.

Wer sich heute freut, dass die FPÖ von ihrem Öxit-Kurs abgegangen ist, sei gewarnt. Da steht keine Erkenntnis dahinter, dass ein Austritt zwecklos ist. Wenn nächstes Jahr der Frust in der Bevölkerung über das Nichtfunktionieren der EU wieder stärker sein wird als das Bild von chaotischen Zuständen im austretenden Großbritannien, wird das Thema wieder aufgegriffen werden. Die EU wird so lang Buhmann bleiben, solang der Gemeinschaftsgeist weiter sinkt und damit auch ihre Handlungsfähigkeit. Der Populismus von Parteien wie der FPÖ treibt diesen Geist weiter und weiter hinunter. Auch die EU-Kommission, die sich zwar unter Jean-Claude Juncker als politische Behörde versteht, jegliche Sensibilität für politische Entwicklungen aber vermissen lässt, hat derzeit ihren Anteil daran.


Die EU ist dennoch nur ein Familientisch, an dem eine gemeinsame Politik entschieden oder verworfen wird. An diesem Tisch kann weiterhin gesägt werden, er wird dadurch nicht stabiler. Und es bleibt nur ein Tisch. Über viele Jahre hinweg sind Vertreter christdemokratischer und sozialdemokratischer Parteien rund um ihn gesessen. Es war nicht „die EU“, die machtbesessen, reformunwillig und von einzelnen Konzernen korrumpiert wurde. Es waren sie.

E-Mails an: wolfgang.boehm@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.07.2016)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.