Die Tücken der türkischen Invasion

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TOPSHOT-TURKEY-SYRIA-UNREST-ISAPA/AFP/BULENT KILIC
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Die Offensive der türkischen Armee um die Grenzstadt Jarablus vom IS zu erobern, war erfolgreich. Doch nun stürzen sich die Türken dort auf den wahren Gegner: die Kurden.

Die grünen Ufer des Euphrat leuchten in der Abendsonne. Riesige Zypressen stehen wie klassische Statuen zwischen den alten Gebäuden eines Dorfes. Olivenhaine überziehen die weiten Hügel. Es ist ein Ausblick, der einen die drückende Sommerhitze von mehr als 40Grad Celsius vergessen lässt und nicht im Geringsten an Krieg erinnert.

Aber das Idyll täuscht. Plötzlich zerreißen drei kurze Detonationen die ländliche Ruhe, ganz im Osten der Türkei, unmittelbar an der Grenze zu Syrien. In unregelmäßigen Abständen folgen weitere Explosionen, die einen unwillkürlich zusammenzucken lassen. Dabei steigen weißgraue Rauchwolken gen Himmel.

„Die türkische Armee räumt Minen“, erklärt Landwirt Nadschi, der hier sein ganzes Leben verbracht hat und von dem seine tiefen Furchen im sonnengegerbten Gesicht erzählen. Der 58-Jährige zeigt mit dem Finger auf den syrischen Ort Jarablus, der direkt an die Grenze zur Türkei anschließt. Das Dorf ist am Mittwoch von türkischen Spezialeinheiten, Panzerverbänden und syrischen Rebellengruppen in einer gemeinsamen Operation vom sogenannten Islamischen Staat (IS) zurückerobert worden. Nun säubern Bombenspezialisten der Armee den Ort und sprengen die von den Jihadisten hinterlassenen Minen.

Mit der Operation „Euphrat-Schild“ hat sich die Türkei, ein Nato-Land, zum ersten Mal in den syrischen Bürgerkrieg direkt eingeschaltet. Ob das am Chaos dort etwas ändern wird, steht zu bezweifeln. Zumal die Türkei nicht nur die IS-Terrororganisation im Visier hat, sondern auch die Kurdenmiliz YPG – und mit dieser am Samstagnachmittag auch am Boden in Syrien in Gefechtsberührung getreten ist.

Anlaufstelle für Jihadisten. Mehr als drei Jahre lang hatte der IS Jarablus und den Grenzübergang beherrscht. Es war eine beliebte Transitroute für viele Hundert Jihadisten aus dem Ausland, die für den IS kämpfen wollten. Jarablus war ihre erste Anlaufstation in Syrien, bevor sie in Trainingscamps verteilt wurden. „Besonders am Anfang, in der Zeit von Juni bis Dezember 2013, gab es oft regelrechte Volksaufmärsche von Neuankömmlingen“, sagt Mohammed Omar der „Presse am Sonntag“. Der 25-Jährige stammt aus Jarablus und war dort auch während der IS-Herrschaft. „Ich musste bleiben“, erzählt Mohammed. „Sonst hätte ich meinen Telefonladen verloren, und der gesamte Besitz meiner Familie wäre beschlagnahmt worden.“

Er ist nun glücklich, dass der IS-Spuk zu Ende ist. „Wir durften ja fast nichts, nicht rauchen, kaum Internet und Telefon benützen, nicht ausgehen, nur die ganze Zeit in die Moschee. Wer nicht gehorchte, wurde geschlagen oder exekutiert.“ Der IS scheint keinen großen Wert auf Jarablus gesetzt zu haben. Nur etwa 200 Mann seien hier ständig postiert gewesen. Als es dem Ende entgegenging, waren laut Mohammed kaum 70 oder 80 geblieben, um sich Türken und Rebellen zu stellen.


Von den Türken zerhämmert. „Jarablus hatte keine strategische Bedeutung“, bestätigt Ahmad Berri, Stabschef der Freien Syrischen Armee (FSA), bei kaltem Orangensaft in einem Café im 70 Kilometer entfernten Gaziantep. Die syrischen Rebellen, die an der Seite der Türken fochten, waren überwiegend Gruppen, die der FSA angehören. „Andere Städte wie Manbij oder al-Bab sind viel wichtiger“, sagt Berri. Aber die fehlende strategische Bedeutung sei nicht der Grund für den geringen Widerstand des IS gewesen, der untypisch für die Terroristen war. „Sie waren von drei Seiten umzingelt, Artillerie und Bombardierungen türkischer Flugzeuge haben alle wichtigen IS-Stellungen zerstört.“ Die Flucht sei als einzige Option geblieben. Berri lacht.

Jarablus ist jetzt in einem Umkreis von fünf Kilometern gesichert. Die ersten Zivilisten seien bereits zurückgekommen. Das nächste Angriffsziel der Rebellen, so erläutert Berri weiter, sei das von Jarablus 40 Kilometer weiter südlich gelegene Manbij. Die Stadt war erst Mitte August nach monatelangem Kampf von den Syrischen Demokratischen Kräften (SDF) dem IS entrissen worden. Und das sei das Problem, meint Berri. „Die SDF müssen verschwinden.“ Und sollten sie nicht abziehen, müsse man sie bekämpfen. „Wir haben bereits das Versprechen der USA und der Koalition, dass wir dann militärisch unterstützt werden.“

Es wäre eine absurde Situation, denn die SDF sind ein Partner des Pentagon und werden von ihm unterstützt.

Berri hat von den SDF keine gute Meinung. Für ihn sind sie Feinde. Der Grund dafür ist, dass der Großteil dieser ethnisch übergreifenden Militärallianz aus Assyrern, Arabern und Turkmenen von den Kurden der YPG-Miliz gestellt wird. „Sie vertreiben Araber aus ihren angestammten Landstrichen und sind Gegner der syrischen Revolution“, klagt Berri an. Außerdem würden sie mit dem syrischen Regime von Basher al-Assad gemeinsame Sache machen.

Wahrer Feind: die Kurden. Die Meinung des FSA-Stabschefs passt zur politischen Linie der Türkei. Nicht umsonst arbeitet Ankara mit der FSA und auch einer der radikal-islamistischen Rebellengruppen zusammen. Das ist Aharr al-Sham, die 2011 von der al-Qaida gegründet worden ist. Alle verbindet die Animosität gegenüber den Kurden, die als Säkulare und als Anhänger föderaler Demokratie schon zu einem Hassobjekt geworden sind. Für die Türkei ist die YPG eine Terrororganisation, nicht anders als ihre türkische Partnerorganisation der PKK. Der Grundsatz der Türkei: Die YPG und SDF dürfen unter keinen Umständen ihr Territorium entlang der türkischen Grenze ausbauen.

Berri erzählt ohne Umschweife, dass es bei der Jarablus-Offensive gar nicht so sehr um den IS ging. „Die Kurden waren auch auf dem Weg, um den Grenzort einzunehmen.“ Das habe man verhindern müssen. Auch andere Kommandeure der an der Jarablus-Offensive beteiligten Milizen bestätigen die Aussagen Berris. Die Türkei hat den IS scheinbar als Vorwand benutzt, um eine Front innerhalb Syriens gegen die YPG und ihre Verbündeten zu eröffnen. Mit ihrem direkten militärischen Eingreifen wird die Türkei das Chaos und das Leiden der Zivilbevölkerung in Syrien sicher nicht beenden. Im Gegenteil, sie könnte eine neue Eskalation der Gewalt provozieren, und zwar zwischen Rebellen und den Kurden.

FAKTEN

Offensive. Die türkische Armee startete am Mittwoch die Operation „Euphrat Schild“. Erklärtes Ziel der Militärintervention im benachbarten Syrien ist es, die Jihadisten des sogenannten Islamischen Staats aus der Grenzstadt Jarablus zu vertreiben. Zweitens will die türkische Regierung erreichen, dass sich die kurdischen Kämpfer hinter den Euphrat zurückziehen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.08.2016)

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