Philippinisches Rache-Epos siegt beim Festival in Venedig

ITALY-CINEMA-FESTIVAL-VENICE-MOSTRA-CLOSING
ITALY-CINEMA-FESTIVAL-VENICE-MOSTRA-CLOSINGAPA/AFP/TIZIANA FABI
  • Drucken

Der Nationalchronist Lav Diaz gewann verdient den Goldenen Löwen. Die Jury um Sam Mendes setzte damit ein Zeichen für marginalisierte Kinoformen in einem Wettbewerb ohne klare Favoriten.

Der philippinische Regisseur Lav Diaz gab sich bei der Annahme des Hauptpreises der 73. Filmfestspiele von Venedig für seinen Film „Ang Babaeng Humayo“ („The Woman Who Left“) gewohnt bescheiden: Nach einer kurzen Dankesrede widmete er sein Werk dem „Daseinskampf der Menschheit“ und verließ die Bühne. Mit der Verleihung des Goldenen Löwen an Diaz – der bedeutendste lebende Filmemacher seines Landes und einer der radikalsten Kinokünstler der Gegenwart – setzte die Jury um Sam Mendes ein mutiges Zeichen für marginalisierte Laufbildformen. Obwohl es im Wettbewerb kaum Favoriten gab, kam die Entscheidung dennoch nicht ganz überraschend: Diaz hat sich in den letzten Jahren nach langer Zeit als Festival-Geheimtipp für Hardcore-Cinephile immer stärker profiliert.

2014 gewann er in Locarno den Goldenen Leoparden, bei der diesjährigen Berlinale den Alfred-Bauer-Preis. Mit seinem Siegerfilm hat der Meister des langen und langsamen Erzählens zudem einen „nur“ knapp vierstündigen, für seine Verhältnisse relativ kompakten und nahbaren Film gemacht – sein Berlinale-Beitrag dauerte doppelt so lang. Die tragische Rachegeschichte in gemessenen Einstellungen und stechendem Chiaroscuro kann fast als Genrestück bezeichnet werden, spielt aber 1997 und ist wie immer bei Diaz auch als Kommentar auf die historischen Verwerfungen seiner Heimat zu verstehen.

Jackie-Biopic

Nach dem ausgesprochen schwachen Start des diesjährigen Hauptwettbewerbs kompensierte dessen zweite Hälfte mit einer Handvoll interessanter Arbeiten und bewies, dass Venedig immer noch mehr ist als ein bloßes Sprungbrett für Oscarkampagnen.
Wobei sich auch unter den oscartauglichen Beiträgen Sehenswertes fand – etwa „Jackie“, das Hollywood-Debüt des stilbewussten Chilenen Pablo Larraín. Kürzlich in einer Cannes-Nebenschiene mit dem unkonventionellen Biopic „Neruda“ vertreten, ließ er hier ein weiteres nachfolgen.

Diesmal steht die Stilikone und vielleicht berühmteste First Lady der USA im Mittelpunkt, Jacqueline Kennedy Onassis – gespielt von Natalie Portman, deren manierierte Mimikry-Performance offenkundig nach Preisen schielt. Spannender ist die lose Konstruktion des Films (der kurz nach der Ermordung JFKs spielt) als impressionistische Montage, die ein breites Themenspektrum auffächert: Die (Un-)Möglichkeit von Trauerarbeit als Person öffentlichen Interesses, die zunehmende Medialisierung der politischen Sphäre in den Sechzigern, aber auch die Bedeutung von Mythenbildung für die Identität einer Nation. Noah Oppenheim erhielt dafür den Drehbuchperis. Ganz allgemein konnte man heute fast von einem Retro-Wettbewerb sprechen: Neun der zwanzig Konkurrenten waren streng genommen Historienfilme, andere – wie das Eröffnungs-Musical „La La Land“ – schwelgten in Nostalgie (Emma Stone erhielt für ihre Darstellung einer Traumtänzerin in Los Angeles einen verdienten Schauspielpreis).

Die ästhetischen Zugänge waren dabei ganz unterschiedlich. Die starke Guy-de-Maupassant-Verfilmung „Une vie“ etwa lässt sich schlichtweg nicht anmerken, dass sie ein Kostümschinken ist. Stéphane Brizé inszeniert das elliptische Porträt einer Adelstochter (großartig: Judith Chemla), die im 18. Jahrhundert einen Hallodri heiratet und später von ihrem undankbaren Sohn in den Ruin getrieben, genau wie sein rezentes Arbeitslosendrama „Der Wert des Menschen“: Als Abfolge intimer, naturalistischer Dialogszenen. Wie „Jackie“ ist „Une vie“ gespickt mit abrupten Vor- und Rückblenden, doch sein zentraler Kunstgriff ist die Auslassung – die Emotion liegt in der verlorenen Zeit zwischen den Bildern.

Gleichnis über Gut und Böse

Um eine leidgeprüfte Frau geht es auch in „Paradise“: Eine Russin (Julia Vysotskaya) beherbergt im okkupierten Frankreich jüdische Kinder und wird dafür in ein Vernichtungslager deportiert. Der spröde, stilisierte Film lässt seine typenhaften Hauptfiguren – darunter auch ein SS-Kommandant – in Zwischenszenen Aufnahmegespräche fürs Jenseits führen. Als schulmeisterliches Gleichnis über Gut und Böse stößt das Drama an die Grenzen der Banalität, erreicht aber dank der exakten Mise-en-scène des russischen Regieveteranen Andrei Konchalovsky (ausgezeichnet mit einem Silberlöwen) fast eine Art unschuldiger Erhabenheit.

Ähnlich verhält es sich mit Terrence Malicks monumentalem Essayfilm „Voyage in Time“. Der Kino-Priester zeichnet darin mit gewohnter Schöpfungsehrfurcht die Entstehung der Welt nach, vom Urknall übers Ursuppengewusel bis zum frühen Menschen. Leider wirkt das lang gärende Herzensprojekt trotz atemberaubender Bildgewalt wie ein bloßes Addendum zur Kosmologie-Sequenz aus Malicks Cannes-Sieger „Tree of Life“, und die Tonspur (Klassik-Overkill und Cate-Blanchett-Gebetsmühle) stellt selbst eiserne Apologeten des Regisseurs auf die Probe.

Explizit in der soziopolitischen Gegenwart ihrer Herkunftsländer verankert waren eigentlich nur die lateinamerikanischen Wettbewerbsbeiträge, „El Cristo ciego“ und „La región salvaje“, eine mit Horror- und Sci-Fi-Elementen gewürzte Parabel über die repressive Sexualmoral der mexikanischen Gesellschaft. In die Zukunft blickte indes Ana Lily Amirpours unausgegorene US-Endzeit-Vision „The Bad Batch“, die den Spezialpreis der Jury erhielt. Seltener kommt vor, dass ein Filmemacher unsere aktuelle Beziehung zur Vergangenheit unter die Lupe nimmt. Eben das macht Sergei Loznitsa in seinem außer Konkurrenz gezeigten Dokumentarfilm „Austerlitz“: Darin montiert er Aufnahmen aus Gedenkstätten wie Dachau und Sachsenhausen zu einem kommentarlosen, suggestiven und zutiefst beunruhigenden Traktat über den Untergang einer Erinnerungskultur in Tourismus-Strömen der Indifferenz: Wenn der Selfie vorm Krematorium zur Selbstverständlichkeit wird, scheint das „Ende der Geschichte“ erreicht zu sein.

Die wichtigsten Preisträger von Venedig

  • Goldener Löwe für den besten Film: "The Woman Who Left" von Lav Diaz (Philippinen)
  • Großer Preis der Jury: "Nocturnal Animals" von Tom Ford (USA)
  • Silberner Löwe für die beste Regie: Zu gleichen Teilen an Amat Escalante für "La Region Salvaje (The Untamed)" (Mexiko, Frankreich, Deutschland u.a.) und Andrej Kontschalowski für "Paradise" (Russland, Deutschland)
  • Spezialpreis der Jury: "The Bad Batch" von Ana Lily Amirpour (USA)
  • Preis für den besten Schauspieler: Oscar Martinez für "El ciudadano ilustre" von Mariano Cohn und Gaston Duprat (Argentinien, Spanien)
  • Preis für die beste Schauspielerin: Emma Stone für "La La Land" von Damien Chazelle (USA)
  • Preis für das beste Drehbuch: Noah Oppenheim für "Jackie" von Pablo Larrain (USA, Chile)
  • Marcello-Mastroianni-Preis für die beste Jungdarstellerin: Paula Beer für "Frantz" von Francois Ozon (Frankreich, Deutschland)

(APA/dpa/Reuters)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren

Filmfestival Venedig

Die 20 Filme im Wettbewerb

Szenenbild aus ''Safari''
Film

Kritik feiert Ulrich Seidls neuen Film "Safari"

Der österreichische Regisseur stellte seinen neuen Dokumentarfilm in Venedig vor. Die internationale Kritik lobt "Safari", obwohl manche Zuschauer das Kino verließen.
La La Land
Film

Venedig zwischen Digital-Jesus und Nostalgie

Mit der schwelgerischen Traumfabrik-Romanze „La La Land“ wurden die 73. Filmfestspiele Venedig eröffnet. Wagemutige Werke findet man im Programm kaum, dafür lockt das Festival mit Stars und technologischen Spielereien.
Film

Seidl auf Safari: Sezierender Blick auf Jagdtouristen

Ulrich Seidl präsentiert in Venedig seine neueste Arbeit, „Safari“. Deutlich kühler geht es in Ronny Trockers „Die Einsiedler“ zu.

Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.