Ernst Märzendorfer: Er war unser wandelndes Musiklexikon

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Am Mittwoch ist der österreichische Dirigent Ernst Märzendorfer nach schwerer Krankheit 88-jährig in Wien gestorben.

Bis zuletzt war er Stammgast in der Direktionsloge der Staatsoper. Als Ehrenmitglied des Hauses verfolgte er von Wagners „Ring“ bis zu Gounods „Faust“ alle Aspekte des Repertoires, belauschte das Orchester und betrieb seine Studien – immer war er bewaffnet mit Klavierauszügen oder Partituren, in denen ungezählte sachdienliche und historische Anmerkungen zu finden waren.

Und immer vermochte er noch, Kollegen aufs Glatteis zu führen. Selbst wenn sich diese monatelang mit einem Werk befasst hatten, sie konnten sicher sein: Ernst Märzendorfer wusste noch viel mehr über „ihr“ Stück, und das nicht nur im Musiktheaterbereich.

Warum hat Haydn ans Ende der Einleitung seiner 104.Symphonie eine einsame Viertelpause gesetzt, scheinbar ganz aus dem Zusammenhang gerissen? Woher hat Hugo von Hofmannsthal den Text zur italienischen Arie des Sängers im ersten Akt des „Rosenkavaliers“?

Märzendorfer wusste es zu sagen, weil er über Jahrzehnte hin aus Neugier selbst Fragen gestellt hatte. Die Antworten hatte er dann mangels geeigneter Auskunftspersonen meist selbst recherchiert, in Archiven, in Büchern und im Dialog mit Musikern und Literaten. Richard Strauss, seinen Abgott, konnte er selbst noch befragen. Dessen Opern er von „Guntram“ bis „Capriccio“ – Märzendorfer dirigierte die amerikanische Erstaufführung – beherrschte er auf Stakkatopunkt und Zweiundreißigstel auswendig. Clemens Krauss, der Märzendorfers Lehrer war, hatte seinen klugen Studiosus entsprechend zu präsentieren gewusst.

Aus Österreich nicht wegzudenken

Schon als Neunzehnjähriger war der aus dem Salzburgischen Gebürtige in die freie Wildbahn der Opernszene entlassen worden: 1940 debütierte er in Graz, wo er bei Robert Wagner auch Komposition studiert hatte. Aus dem österreichischen Musikleben war er fürderhin nicht wegzudenken, ob als Chefdirigent des Mozarteum-Orchesters (ab 1951) oder als Kapellmeister an der Staatsoper, wohin ihn Herbert von Karajan 1959 verpflichtete. Zwar machte Märzendorfer auch im Ausland Karriere, vom Teatro Colon in Buenos Aires bis nach Berlin.

Doch blieb er der Inbegriff des österreichischen Kapellmeisters, der sich – wie zuletzt noch bei den Opernfestspielen von St.Margareten – um jede einzelne Orchesterstimme persönlich kümmerte und unermüdlich Fehler um Fehler korrigierte, mit Vorliebe solche, die sich über Hunderte von Repertoire-Aufführungen im Material eingeschlichen hatten und schon deshalb für wahr genommen wurden.

441-mal stand Märzendorfer am Pult der Wiener Staatsoper, für Opern- und Ballett-Vorstellungen gleichermaßen. Er hob neu komponierte Stücke wie Einems „Medusa“ und Henzes „Tancredi“ aus der Taufe. Auch hat er in unermüdlichem Quellenstudium eine Spielversion aus Anton Bruckners Skizzen für den letzten Satz der Neunten Symphonie erstellt und aufgeführt.

Am Mittwoch ist Ernst Märzendorfer nach schwerer Krankheit 88-jährig in Wien gestorben. Die Musikfreunde, Interpreten, nicht zuletzt auch Kritiker wie der Schreiber dieser Zeilen, verlieren einen zauberhaften Fachmann. Unser wandelndes Lexikon ist nicht mehr. [APA]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.09.2009)

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