Beim Prozess im Grazer Straflandesgericht um die Amokfahrt vom Juni 2015 zeigt sich schon am zweiten Prozesstag, wie unbestimmt die psychiatrischen Diagnosen sind.
Graz. „Es tut mir furchtbar leid, was passiert ist, aber ich bin selbst Opfer.“ Nein, an der einsilbigen, für viele Beobachter unerträglichen Verantwortung des Amokfahrers von Graz hat sich auch am zweiten Verhandlungstag nichts geändert. Auch dessen Garderobe, die schon am ersten Tag dem Richter einen verwunderten Kommentar abgerungen hat, ist dieselbe: weißer Anzug, weißes Hemd, weiße Schuhe. Und doch ist vieles neu. Vor allem die (im Prozessverlauf früh hervorgetretene) Erkenntnis: Die Diagnosen zum psychiatrischen Zustand des 27-jährigen Alen R. basieren offenbar nur auf einem „Verdacht“. Dabei sind gerade diese Diagnosen eminent wichtig.
Unterlagen aus der Justizanstalt Göllersdorf, wo R. seit einigen Monaten in psychiatrischer Behandlung ist, enthalten den Passus: „Verdacht auf paranoide Schizophrenie.“ Aufgrund dieser Erkrankung und der daraus ableitbaren Unzurechnungsfähigkeit beantragt die Staatsanwaltschaft eine Anstaltseinweisung für den Mann, der am 20. Juni 2015 auf seiner rasenden Fahrt durch die Grazer Innenstadt drei Menschen getötet und 43 zum Teil schwerst verletzt hat.
Liegt diese Störung bei R. nun vor, wie drei Gerichtsgutachter für forensische Psychiatrie meinen – zwei leiten daraus Unzurechnungsfähigkeit ab, einer sieht R. als zurechnungsfähig – oder ist diese Diagnose eben nur ein „Verdacht“? Darüber entbrennt am Mittwoch im streng bewachten Schwurgerichtsaal des Grazer Straflandesgerichts ein Disput. Dieser gipfelt darin, dass der vorsitzende Richter Andreas Rom sich wieder einmal wundert - und eine Frage in den Raum stellt, die vorerst nicht umfassend beantwortet wird: „Hat es die Medizin in einem Jahr noch nicht geschafft, eine konkrete Diagnose zu stellen?“ Der aus dem deutschen Göttingen als Obergutachter angereiste Psychiater Jürgen Müller, dessen Expertise (dieser zu Folge ist R. unzurechnungsfähig) zwar erst kommende Woche erörtert wird, gibt vorab Antwort: „Eine psychiatrische Diagnose lässt sich nicht stellen wie ein Beinbruch. Manchmal bestätigt sich eine Arbeitsdiagnose erst nach Jahren.“

Für den Mann mit bosnischen Wurzeln, der vornübergebeugt zwischen zwei Justizwachebeamten sitzt, bedeute das: „Bei ihm gibt es ein wahnhaftes Erleben, das ist aber noch nicht fixiert. Er nimmt überall Verfolger wahr, aber das ist noch nicht ausgestaltet.“ Am ersten Prozesstag hat R. etwa seinen früheren Schwiegervater als einen solchen Verfolger genannt.
Sie in schwarz, er in weiß
Als Verteidigerin Liane Hirschbrich - sie bildet mit ihrem schwarzen Kostüm und ihren langen, schwarzen Haaren einen auffälligen Kontrast zu ihrem ganz in weiß dasitzenden Mandanten - dies hört, fragt sie sicherheitshalber, ob Gutachter Müller bei seinem gutachterlichen Resultat, paranoide Schizophrenie, bleibe. Doch der Richter geht dazwischen. Die Gutachten an sich sollen erst nächste Woche erörtert werden. Und das wird spannend. Denn in Stein gemeißelt sind die vorliegenden Expertisen keineswegs.

Verbale Vorboten auf das Kommende stellen sich schon am Mittwoch ein: Auch die Staatsanwälte, die „nur“ einen Antrag auf Unterbringung in einer geschlossenen Anstalt gestellt haben (eine Anklageschrift gibt es nicht, in diesem Fall würde R. lebenslange Haft drohen), werden hellhörig.
Einer der beiden, Hansjörg Bacher, liest aus einer älteren Göllersdorf-Unterlage vor, in der es heißt: „Der Patient ist wach und im Tempo unauffällig.“ Bacher: „Heute ist es anders. Sind das die Medikamente oder ist das Show?“
Gutachter Manfred Walzl (er meint ja, dass R. bei seiner Amokfahrt sehr wohl zurechnungsfähig war) nimmt zu dem nunmehr augenscheinlich gedämpften Zustand des 27-Jährigen Stellung: „Man kann nicht ausschließen, dass dieses Verhalten gewollt ist.“ Sein deutscher Kollege Müller wird deutlicher: „Vielleicht spielt er.“ Möglich sei aber auch, dass die Medikamente, die R. mittlerweile in hoher Dosierung nehme, zu einer Änderung des Erscheinungsbildes bzw. zu einem Abklingen früher tatsächlich vorhandener Symptome geführt haben. Klar ist: Da R. nun unter Medikamenteneinfluss steht, erleben die Geschworenen nicht den Alen R. vom 20. Juni 2015, sondern eben einen veränderten Mann.
Ein Joint oder eine Schale Tee?
Indes erklärt der Toxikologe Manfred Kollroser, dass R. offenbar regelmäßiger Cannabis-Konsument gewesen sei. R. bestreitet das. Er habe nur eine „Schweizer Teemischung“ getrunken. Dies könne aber nicht der Grund für die Messwerte sein, so der Toxikologe.
Geradezu körperlich beklemmend wird es immer, wenn Opfer in den Zeugenstand treten. Da ist etwa ein Mann, der in Trauma-Behandlung war, nachdem R. mit seinem Zwei-Tonnen-SUV auf ihn zugerast war. Ausgerechnet eine Frage der Verteidigerin gibt diesem Zeugen die Möglichkeit zu sagen, welchen Eindruck er an diesem Schreckenstag gehabt habe: „Er wollte seine Mission erfüllen. Er ist ja dann in die Herrengasse gefahren und hat ein Blutbad ausgelöst.“ Am Donnerstag wird der Prozess fortgesetzt.
''Presse''-Liveticker
Wir berichten aus dem Grazer Gericht von der Verhandlung gegen den Amokfahrer.