Mit dem Physik-Nobelpreis werden heuer zwei Schotten und ein Engländer ausgezeichnet – für die theoretische Erklärung und Vorhersage exotischer Zustände der Materie und der Übergänge zwischen solchen.
Der Nachweis der Gravitationswellen werde gewiss heuer prämiert werden, prophezeiten viele, Physiker und Laien. Nein, dessen Publikation sei erst nach der Nominierungsfrist gekommen, sagten andere – und setzten auf die Exoplaneten. Beide wurden enttäuscht: Die Entscheidung der Königlich-Schwedischen Akademie der Wissenschaften überrascht alle – und führt uns vor Augen, dass es Felder der Physik gibt, die sowohl theoretisch faszinierend als auch technisch wichtig sind und es trotzdem nicht zu breiter Popularität bringen. Aus einem schlichten Grund: Sie sind verdammt schwer zu erklären.
Diesfalls die theoretische Festkörperphysik. Genauer: die Theorie der Phasenübergänge. Etliche solche sind uns gut bekannt – Schmelzen, Gefrieren, Sieden, Kondensieren etc. –, aber selbst diese lassen sich gar nicht leicht beschreiben. Charakteristisch für solche Übergänge ist, dass eine Ordnung zusammenbricht oder entsteht, etwa beim Schmelzen respektive Gefrieren die Ordnung des Kristalls. Ebenfalls bei einer ganz bestimmten Temperatur werden manche Stoffe ferromagnetisch, andere supraleitend oder superflüssig. Auch dabei verändert sich eine Ordnung (etwa magnetischer Momente) mehr oder weniger sprunghaft; salopp kann man das dadurch erklären, dass bei einer bestimmten Temperatur die thermische Bewegung so stark wird, dass sie die Ordnung sprengt. Und zwar überall im Kristall zugleich. Man nennt das ein kollektives Phänomen.
Wirbel in Paaren
Lange Zeit dachten die Festkörperphysiker, dass es in einem zweidimensionalen Kristallgitter gar keine Ordnungszustände gebe, die thermische Bewegung überstehen können. Und damit auch keine Phasenübergänge. 1973 zeigten David Thouless und Michael Kosterlitz in Birmingham, wie solche doch entstehen können: Ihr – zunächst rein theoretisches – Modell ist als KT-Übergang in die Fachliteratur eingegangen. Es beruht im Wesentlichen auf kleinen Wirbeln, die im Niedertemperaturzustand paarweise auftreten und im Hochtemperaturzustand einzeln. (Mit einer Bildung respektive Auflösung von Paaren, diesfalls von Elektronen, erklärt man ja auch die Supraleitung.)
Gut, mag man sich denken, aber wir leben doch in keiner zweidimensionalen Welt! Das zwar nicht, aber etwa in der Mikroelektronik sind die Schichten oft so dünn, dass man sie als zweidimensional beschreiben kann. Wichtig sind auch Phänomene an Grenzflächen zwischen zwei Materialien, bei denen man die Elektronen als zweidimensionales Gas beschreiben muss. Etwa der Quanten-Hall-Effekt, bei dem sich der elektrische Widerstand, wenn man ein angelegtes Magnetfeld kontinuierlich variiert, in ganz bestimmten Sprüngen ändert. Klaus von Klitzing hat diesen Effekt entdeckt und dafür 1985 den Nobelpreis bekommen, doch David Thouless hat theoretisch erklärt, wie diese Sprünge zustandekommen.
Dabei verwendete er mathematische Methoden aus der Topologie. Diese befasst sich damit, welche Eigenschaften von Strukturen trotz Verformungen erhalten bleiben; eine populäre Illustration ist die Kaffeetasse (mit Henkel!) aus Plastilin, die sich ohne Reißen in einen Reifen verwandeln lässt. Mit topologischen Methoden kann man sozusagen erforschen, ob und wie sich lokale Störungen auf globale Eigenschaften auswirken.
Nach 26 Jahren experimentell realisiert
Aus diesem Grund ist das Wort topologisch in den letzten Jahrzehnten in die Physik eingegangen, dazu beigetragen hat auch Duncan Haldane, der dritte neue Nobelpreisträger. Er untersuchte sogar eindimensionale Materialien, Ketten aus magnetischen Atomen etwa, selbstverständlich rein theoretisch. Aber auch zweidimensionale, eines ist als Haldane-Modell bekanntgeworden. Es sei „unwahrscheinlich, dass es direkt physikalisch realisierbar sei“, schrieb er 1988 in seiner Publikation. 2014 wurde es realisiert, mit ultrakalten 40K-Atomen in einem optischen Gitter. Ein wahrlich seltsamer Zustand der Materie – und ein schönes Beispiel dafür, wie gut in der Festkörperphysik das Zusammenspiel zwischen Theorie und Experiment funktioniert.