Die ganze Kunst der Welt auf einen Klick

AUSSTELLUNG: 150 JAHRE GUSTAV KLIMT
AUSSTELLUNG: 150 JAHRE GUSTAV KLIMT(c) APA/ROLAND SCHLAGER
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Fast jede Sammlung bietet heute eine virtuelle Plattform zur Erkundung ihrer Schätze. Was das für die Aura des Originals und die Deutungshoheit der Kuratoren bedeutet – und warum wir dennoch gern ins „richtige“ Museum gehen.

Eine Milliarde Pixel sind eine ganze Menge Bildpunkte. Bei Klimts „Kuss“ bedeuten eine Milliarde Pixel etwa, dass, wenn man ganz weit hineinzoomt in die beiden Liebenden, die Lippen der Frau einen ganzen Bildschirm füllen und dabei noch immer gestochen scharf sind. Man sieht jeden Pinselstrich, jeden der vielen feinen Risse in der Farbschicht, und die Poren der Leinwand treten so klar hervor wie die Hügelchen einer Buckelpiste. Im Belvedere, wo das Gemälde hängt, könnte man diese feinen Details nicht einmal ausmachen, wenn man sich mit der Lupe ans Bild drückt. Auf der Seite des Google Art Project, wo der „Kuss“ im Gigapixel-Format bereit steht, reicht dafür einfaches Scrollen.

Seit 2011 schickt Google seine Mitarbeiter, Kameras und Roboter in die ganze Welt, um die analogen Schätze der Kunst auch digital verfügbar zu machen. Parallel dazu begannen die meisten Museen, ihre Sammlungen auch selbst zu digitalisieren und ihrem Publikum anzubieten. Heute hat fast jedes Haus eine virtuelle Plattform zur Erkundung seiner Objekte – das reicht vom wenig spannenden, eher zu Recherchezwecken interessanten digitalen Karteikasten bis hin zu ausgeklügelten, intuitiv erfahrbaren Online-Ausstellungen. In der Sammlung des Frankfurter Städel, das sich als digitaler Vorreiter hervorgetan hat, kann man nicht nur anhand kunsthistorischer Daten nach Werken suchen, sondern auch von Assoziationen und Stimmungen geleitet durch die Sammlung „schlendern“: Ein unheimlich wirkendes Richter-Gemälde führt da zu einem düsteren Kupferstich von Dürer mit vier nackten Frauen, der wiederum zu anderen Akten aus selber Perspektive. Ähnlich, wenn auch weniger intuitiv, funktioniert die Online-Sammlung der Tate in London: Die zeigt einem etwa alle Bilder mit Orangen oder mit Händchen haltenden Menschen an. Auch das Belvedere bietet eine beschlagwortete Datenbank an: Hier kann man sich von Schieles „Umarmung“ zu anderen umschlungenen Liebenden treiben lassen und – ähnlich wie im physischen Museum – auch interessante Zufallsfunde machen.

Die digitalen Sammlungen haben unendlich viel Platz, sind (noch?) gratis, bequem und barrierefrei zugänglich. Nie haben sie geschlossen, nie stört eine Schulklasse den Blick auf ein Kunstwerk – hat das klassische Museum bald ausgedient? Nein, sagt der Museumsforscher Ross Parry von der britischen University of Leicester der „Presse“. Kein digitales Abbild könne die Erfahrung, ein Original zu betrachten, das Menschen schon Jahrhunderte vor einem betrachtet haben, ersetzen. „Diese elektrifizierende Aufregung, wenn du an der Reihe bist, vor diesem Kunstwerk zu stehen, die können wir nicht digital nachmachen“, sagt er. „Aber wir können etwas anderes machen. Etwas, das uns auf andere Art inspiriert, bewegt, unterhält oder belehrt.“

„Wir brauchen Kuratoren mehr denn je“

Denn das Potenzial der digitalisierten Kunst ist immens. Hier können wir Kunstwerke nicht nur länger und näher betrachten als in der physischen Welt (besonders solche Werke, die aus konservatorischen Gründen nur selten ausgestellt werden können). Wir können die Werke manipulieren – das Amsterdamer Rijksmuseum etwa forderte Entwickler auf, die Daten seiner Sammlung kreativ zu nutzen und zum Beispiel Augmented-Reality-Apps zu schaffen – und nach Belieben neu anordnen: Auf vielen der digitalen Plattformen kann der Nutzer verschiedene Werke, auch solche, die in der physischen Welt durch Kontinente getrennt sind, zu eigenen Sammlungen zusammenstellen. Er bestimmt dann über Relevanz und Ordnung, er kann sich aussuchen, welche Werke er in welchem Kontext und neben welchen anderen Werken sehen will.

„Der Kurator ist plötzlich nicht mehr der Einzige, der Sammlungen zusammenstellen kann“, sagt Parry. „Seine Autorität verliert er durch das Web aber nicht. Wenn wir von so vielen Daten umgeben sind, brauchen wir mehr denn je Leute, die die Expertise und das Urteilsvermögen haben, zu sagen, was bewahrenswert ist und wo die interessanten Geschichten zu finden sind.“

Die Informationshoheit liegt nun allerdings nicht mehr bei den Museen allein. Diesen bleibt, um ihrem Bildungsauftrag gerecht zu werden, nur die Flucht nach vorn: „In Zeiten des Smartphones kann man sowieso nicht verhindern, dass die Leute einen Schnappschuss von Objekten im Internet verbreiten. Wenn wir es selbst online stellen, können wir dafür sorgen, dass es die richtige Qualität hat, den richtigen Farbeindruck wiedergibt und dass die richtigen Infos dabeistehen“, sagt Julia Häußler, Kunstvermittlerin im KHM. Dass das digitale Angebot Menschen abhalten könnte, ins Museum zu gehen, glaubt auch sie nicht: „Das ist eine Angst, die man zu Unrecht hatte.“

Links. Googles „Übermuseum“ mit Werken aus aller Welt: google.com/culturalinstitute. Das Städel ist ein digitaler Vorreiter: digitalesammlung.staedelmuseum.de. Gut stöbern kann man auch auf digital.belvedere.at.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.10.2016)

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