Das britische Verbot der Ernsthaftigkeit

A plate of traditional fish and chips with a gherkin on a table in a seafront fish and chip shop in Brighton
A plate of traditional fish and chips with a gherkin on a table in a seafront fish and chip shop in BrightonREUTERS
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Die Briten nehmen Fehltritte, Brexit, Debatten im Parlament und selbst katastrophale Fehlschläge mit Humor. Aber der Hunger nach Scherz erschwert die ernsthafte Debatte.

Es gibt viele schöne Seiten des britischen Lebens. Aber es ist auch reich an Zumutungen. Um sie zu ertragen, haben die Briten ihre eigene Form des Humors entwickelt. Wenn Briten ein vorteilhaftes Bild von sich geben wollen, dann attestieren sie sich einen „good sense of humour“. GSOH, die Abkürzung dafür, ist mittlerweile so geläufig geworden, dass sie sogar Eingang in das Cambridge English Dictionary gefunden hat. Die Sozialanthropologin Kate Fox schreibt: „Eine Grundregel jeder englischen Konversation ist das Verbot der Ernsthaftigkeit (earnestness).“

Der britische Humor wird gemeinhin als schwarz beschrieben, weil er von einer pessimistischen Annahme ausgeht, die sich in der Pointe sogar noch als übertrieben optimistisch erweist. Wenn im Scherz alles schiefgeht, wer muss sich dann noch wundern oder aufregen, dass es in Wirklichkeit nicht anders ist? Der britische Humor ist der größte und wirkungsvollste Selbstschutzmechanismus dieser Gesellschaft.

Wenn etwas nicht klappt, muss es auch Schuldige geben, und das sind zuallererst einmal die Briten selbst. Die Fähigkeit, sich über sich selbst lustig zu machen, ist eine soziale Fähigkeit, deren Wichtigkeit im britischen Gesellschaftskontakt gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Für sie erntet man Wohlwollen und Anerkennung, selbst im verhängnisvollsten Scheitern.

In seiner letzten Unterhausdebatte verabschiedete sich David Cameron am 13. Juli 2016 als Premierminister mit den Worten: „Ich war einmal die Zukunft.“ Das Parlament dankte ihm mit brüllendem Gelächter. Im Dezember 2005 hatte Cameron als neuer Chef der Opposition erstmals aufhorchen lassen, als er dem damals für die Opposition noch unantastbar scheinenden Premier Tony Blair frech entgegengeschleudert hatte: „Er war einmal die Zukunft.“

Wer sich über sich selbst lustig macht, braucht sich auch nicht mehr zu rechtfertigen. Ein gut platzierter Scherz erlaubte es Cameron, mit jeder Menge guten Wünschen und Sympathie in den vorzeitigen Politruhestand zu segeln. Der Comedian Alex Kealy sagte über den Abschied des Premiers: „Es war, als ob jemand bei der Einzugsfeier gestorben war, aber man endlos darüber redete, wie großartig die Guacamole ist.“ Wer darauf verwies, welchen Trümmerhaufen der scheidende Premier angerichtet und hinterlassen hatte, wurde gleichsam nicht nur der Pietätlosigkeit, sondern – viel schlimmer – auch noch der Humorlosigkeit geziehen. Die Briten würden sich wesentlich leichter mit dem Erbe Tony Blairs tun, würde er nicht bis heute mit grimmigem Ernst auf der völligen Richtigkeit des Irak-Kriegs beharren.

Gegen alle. Wer sich über sich selbst lustig machen kann, erwirbt aber auch einen Freibrief, sich über andere lustig zu machen. Kaum ein fremdes Volk, das von den Briten nicht sein Fett abbekommt. Nachdem die zugrunde liegende Fremdenfeindlichkeit im Grund aber beim Wohnungsnachbarn beginnt und bei den Klingonen noch lang nicht endet, kann eigentlich niemand des Rassismus beschuldigt werden. Wer gegen alle ist, diskriminiert niemanden.

Im britischen Humor vereint sich ein vollendetes Zusammenspiel von Minderwertigkeitskomplex („Natürlich sind nur wir so blöd, nicht einmal den Zugsverkehr organisieren zu können“) und Überheblichkeitssyndrom („Wir sind das Mutterland des Eisenbahnverkehrs“). Der Witz ist damit der perfekte Ausdruck der britischen Seele.

Egal, ob ein wichtiges Vorhaben sich als katastrophaler Fehlschlag herausstellt, Hauptsache ist, „we are having a laugh“, wir haben Spaß gehabt, oder „we are having a good time“. Die am meisten verehrten Persönlichkeiten der Geschichte sind nicht schneidige Triumphatoren, sondern ehrenhafte Verlierer, solange sie sich mit Würde und Humor geschlagen gegeben haben. Der Historiker Paul Ward meint: „Heldenhaftes Scheitern pflegte Siegen voranzugehen oder zu folgen, bevor es im 20. Jh. immer häufiger vor und nach Niederlagen gleichzeitig stand.“

Der Humor als Überlebensmechanismus ist über Jahrhunderte verfeinert worden und wird von Generation zu Generation schon mit der Sprache weitergegeben. Das Werkzeug des britischen Humors ist die Sprache. Es gibt unendliche Variationen der Ironie, des Sarkasmus und des Zynismus. Es gibt die feine Klinge ebenso wie den Holzhammer. Nichts ist heilig, aber zugleich ist man auch nicht wirklich vollkommen respektlos. Die Meister des Humors sind die Comedians, was weder mit Kabarettist noch mit Komiker völlig richtig übersetzt werden kann. Die besten unter ihnen sind beides.

Der Hunger der Briten nach Komödien, Parodien und Satiren ist unstillbar. Die besten und beliebtesten sind jene, in denen sie sich über sich selbst lustig machen: ihre Vorurteile, ihre Komplexe, ihre Ängste, ihre Unzulänglichkeiten und wie sie dennoch zurechtkommen. Es kann kein Zufall sein, dass die beste und zutreffendste Analyse der britischen Politik in Satiren wie „Yes, Minister“, „House of Cards“ oder „The Thick of It“ zu finden ist. In der Satire spiegeln sich die britische Politik und das britische Leben, um es in den Worten von Karl Kraus zu sagen, „bis zur Kenntlichkeit entstellt“.

Dass alles ein Scherz sein oder auf einen Scherz reduzierbar sein muss, erspart einem das Aussprechen unangenehmer Wahrheiten. Es bedarf enormer Antizipation, um aus all den Sätzen mit „would“, „could“ oder „might“ zu verstehen, was der Gesprächspartner eigentlich will. Wenn aber alles ein Scherz ist oder auf einen Witz reduzierbar sein muss, ist es schwer, eine ernsthafte Debatte zu führen. Es war nicht so, dass die Briten keine Gelegenheit gehabt hatten, sich in der EU-Auseinandersetzung zu informieren und eine Meinung zu bilden. Unendlich viel Information war verfügbar. Fast 90 Prozent aller britischen Haushalte hatten 2016 Zugang zum Internet. Die Regierung schrieb an jeden Bürger. Jeder, der es wissen wollte, konnte wissen, dass die EU-Gegner mit unwahren Aussagen arbeiteten. Ihr führender Protagonist, Boris Johnson, gewann dennoch die Herzen der Wähler, nicht zuletzt, weil er einen unschlagbaren „good sense of humour“ hat.

Es ist bezeichnend – aber kein Witz –, dass am Tag nach der Entscheidung für den Austritt aus der Europäischen Union der meistgesuchte Begriff auf Google in Großbritannien die Frage war: „Was ist eigentlich die EU?“

Die zweithäufigste Suche war, wie man die irische Staatsbürgerschaft erwerben kann.

Das Buch

Gabriel Rath ist Korrespondent der „Presse“ und berichtet aus der britischen Hauptstadt London.

Der Text ist ein Auszug aus Raths neuem Buch über Großbritannien und den Brexit.

„Brexitannia. Die Geschichte einer Entfremdung.

Warum Großbritannien für den Brexit stimmte“
Braumüller-Verlag

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.10.2016)

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