"Die Türkei ist zu einem großen Gefängnis geworden"

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HDP-Politikerin Beycan Taşkıran über die Kurdenpolitik, die prekäre Lage der Frauen sowie den nicht gebrochenen Widerstand.

Wien. Gleich zwei schwere Anschläge haben in der vergangenen Woche die Türkei erschüttert. Dutzende Tote, noch mehr Verletzte. Zumindest zu dem Attentat in Istanbul mit über 40 Toten hat sich die PKK-Splittergruppe Freiheitsfalken Kurdistans (TAK) bekannt – somit geht die Regierung besonders rigoros gegen die prokurdische Parlamentspartei HDP vor. Rund 700 Politiker und Abgeordnete der Partei befinden sich derzeit in Haft, sagte HDP-Politikerin Beycan Taşkıran bei ihrem Kurzbesuch in Wien am Sonntag; ihnen wird zumeist „Terrorpropaganda“ im Zusammenhang mit der PKK vorgeworfen.

„Alles, was wir als HDP sagen und machen, ist bekannt. Wie können wir da als Terroristen gelten? Die HDP ist immer für eine friedliche Lösung eingetreten“, so Taşkıran. Es sei eine „politische Prestigesache“ für die regierende AKP, die prokurdische Partei zu zerschlagen – und genau das passiere momentan. Die HDP opponiert gegen die Pläne von Präsident Recep Tayyip Erdoğan, eine Präsidialrepublik einzuführen, die ihn mit viel mehr Macht ausstatten würde. Bis zu dem geplanten Referendum zur Verfassungsänderung im Frühsommer, vermutet Taşkıran, wolle die Regierung die HDP „beseitigt“ haben. Die Doppelspitze der Partei befindet sich seit Wochen in Untersuchungshaft.

Syrerinnen in Bedrängnis

Die „Kriegspolitik“ der AKP sowie das brutale Vorgehen der türkischen Streitkräfte in der Kurdenregion seien die Ursache für die blutigen Auswüchse. Der Kurdenkonflikt ist vor über einem Jahr wieder voll entflammt und zieht auch geografisch weite Kreise. Die HDP hat Anschläge der PKK und TAK zwar immer wieder scharf verurteilt, die Regierung aber wirft den drei Gruppen enge Bande vor.

Die AKP wolle mit der Welle der Oppression vom eigenen Fehlverhalten wie Korruption ablenken, sagt Taşkıran. „Unsere Rechte werden beschnitten. Wir sind so weit, dass es nahezu unmöglich geworden ist, sich gewerkschaftlich zu organisieren.“

Zudem sei die Flüchtlingspolitik gescheitert, syrische Familien würden unter widrigsten Bedingungen in der Türkei leben. Tausende Syrerinnen würden sich prostituieren, Frauenhandel sei weit verbreitet. Die Frauenbewegung habe in der Türkei ohnehin einen schweren Stand, die Entwicklungen unter der konservativen AKP-Regierung hätten progressive Errungenschaften rückgängig gemacht, sagt Taşkıran, die auch im Frauenkomitee der HDP vertreten ist.

Der derzeitige Ausnahmezustand und die Mobilmachung der Regierung gegen die prokurdische Partei, kurdische Milizen sowie die islamische Gülen-Bewegung, die für den gescheiterten Putsch im Juli verantwortlich gemacht wird, treffe die Frauen insofern besonders, als etwa Beratungs- und Hilfsvereine nach dem Putschversuch ersatzlos gestrichen worden seien. Die HDP ist die Partei mit dem höchsten Frauenanteil, daher befinden sich derzeit auch viele von ihnen – etwa Bürgermeisterinnen – in Haft, sagt die Politikerin: „Die Türkei ist zu einem großen Gefängnis geworden.“

Die inhaftierten HDP-Vertreterinnen würden ihren Anwälten von Übergriffen inklusive sexueller Belästigung berichten. „Wir halten alles fest und werden es der Weltöffentlichkeit berichten.“ Denn es gebe großen Widerstand auf politischer Ebene, man reduziere sich nicht auf den Opferstatus. Die HDP sieht sich nicht nur als prokurdische Partei, sondern als demokratische Partei der Völker, wie sie auch offiziell heißt: Sie hat Vertreter verschiedener Minderheiten wie Armenier und Jesiden, tritt für Homosexuellenrechte ein und gegen den politischen Islam auf. Ein Programmpunkt ist die politische Dezentralisierung der Türkei und föderale Selbstbestimmung der Regionen: Das würde beispielsweise den hauptsächlich von Kurden bewohnten Landesteilen mehr „Bewegungsfreiheit“ geben, wie Taşkıran meint.

ZUR PERSON

Beycan Taşkıran
Die HDP-Politikerin lebt in Istanbul und ist im Frauenkomitee der prokurdischen Partei aktiv. Sie war am Wochenende auf Kurzbesuch in Wien. Taşkıran wirft der regierenden, konservativen AKP „Kriegspolitik“ und die Beschneidung der Frauenrechte vor. [ Özkan ]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.12.2016)

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