Erdoğan-Anhänger werfen den USA vor, hinter dem Anschlag am russischen Botschafter zu stecken. Attentäter war mehrmals als Leibwächter des türkischen Staatspräsidenten im Einsatz.
Istanbul. Die türkischen Sicherheitsbehörden stehen nach dem Mord an dem russischen Botschafter in Ankara im Zentrum peinlicher Enthüllungen. Zugleich entwickelt sich ein Streit über die Motive des Attentäters, der die Zerwürfnisse in der Türkei selbst und das Misstrauen gegenüber dem Westen offenlegen: Anhänger von Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan sehen – wie schon beim Putschversuch im Juli – die USA als Drahtzieher. Washington reagiert irritiert.
Laut Presseberichten war der junge Polizist Mevlüt Mert Altıntaş, der den Diplomaten Andrej Karlow am Montag niederschoss, in den vergangenen Monaten mehr als ein halbes Dutzend Mal im Sicherheitstross von Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan eingesetzt worden. Vorige Woche soll Altıntaş an der Absicherung der russischen Botschaft in Ankara während einer Demonstration teilgenommen haben.
Auch bei der Aufklärungsarbeit erscheinen die türkischen Ermittler nicht im besten Licht. Die Polizei habe es nicht geschafft, die Zugangscodes zu Altıntaş‘ Handy zu knacken – das Gerät des von der Polizei erschossenen Täters sei deshalb nach Moskau geschickt worden, meldeten die Zeitungen.
Unterdessen streiten sich Regierungsgegner und -anhänger darüber, in wessen Auftrag Altıntaş handelte. Russische Medien und türkische Journalisten berichteten von einem Bekennerschreiben der al-Nusra-Front, des al-Qaida-Ablegers in Syrien. Einige der Parolen, die Altıntaş nach den tödlichen Schüssen auf Karlow schrie, sollen Zitate aus al-Nusra-Texten gewesen sein.
Das Erdoğan-Lager besteht dagegen darauf, dass Altıntaş von der Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen gesteuert wurde. Das al-Nusra-Schreiben sei eine Fälschung, betonten Anhänger des Staatspräsidenten auf Twitter.
Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu sagte, die Regierungen in Moskau und Ankara seien sich einig, dass Gülens Bewegung hinter dem Anschlag stecke. Allerdings wollte sich der Kreml dieser Einschätzung nicht anschließen: Es sei noch zu früh, um solche Aussagen treffen zu können.
Der Streit um die Deutungshoheit ist politisch bedeutsam: Die Regierung in Ankara ist stark daran interessiert, ihre Einstufung der auch für den Putschversuch vom Sommer verantwortlich gemachten Gülen-Bewegung als Terrororganisation zu untermauern. Ziel ist es, die USA zur Auslieferung des 78-jährigen Predigers zu bewegen. Gülen, der seit fast 20 Jahren in Pennsylvania lebt, hat jede Beteiligung an dem Putsch und an dem Mord an Karlow dementiert.
Al-Nusra unter Verdacht
Sollte sich dagegen herausstellen, dass Altıntaş tatsächlich im Auftrag der al-Nusra-Front handelte, würde die Erdoğan-Regierung in Erklärungsnot geraten. Ankara unterstützt in Syrien die radikalislamische Gruppe Ahrar al-Sham, die mit al-Nusra kooperiert. Erdoğan hatte im Juni die Frage gestellt, warum der Westen die al-Nusra-Front als Terrorgruppe sehe. Kritiker werfen Erdoğan seit Langem vor, Jihadisten in Syrien zu unterstützen, um Staatschef Assad zu stürzen.
Momentan sehen die Anhänger des Präsidenten aber eine ganz andere Gefahr. Die derzeitige Terrorwelle in der Türkei – 45 Tote beim Anschlag von Istanbul vor zehn Tagen, 14 Tote beim Anschlag von Kayseri am Wochenende, dann der Botschaftermord – sei kein Zufall, schrieb İbrahim Karagül, Chefredakteur der Erdoğan-treuen Zeitung „Yeni Şafak“. Ziel sei es, die Türkei zu destabilisieren und eine Lösung des Syrien-Konfliktes durch die Türkei, Russland und den Iran zu verhindern. „Hauptverdächtiger“ für diese Verschwörung seien die USA.
Schon nach dem Juli-Putsch hatten Regierungsmitglieder von einem Komplott der Amerikaner gegen Erdoğan gesprochen. Dass jetzt erneut solche Vorwürfe gegen die USA laut werden, sorgt in Washington für Zweifel an der Verlässlichkeit des türkischen Partners. Das US-Außenamt nannte die Verschwörungstheorie im Zusammenhang mit dem Karlow-Mord „absolut lächerlich“.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.12.2016)