Goldträume und Sehnsüchte im Schweizer Hochgebirge

Wohlfühlen in der Schräglage: für Marcel Hirscher ein Muss.
Wohlfühlen in der Schräglage: für Marcel Hirscher ein Muss.(c) APA/AFP/CHRISTOF STACHE (CHRISTOF STACHE)
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Bei der am Montag beginnenden Skiweltmeisterschaft in St. Moritz wollen sich die Superstars der Szene vergolden, auch Außenseiter wittern am zweimaligen Olympiaschauplatz ihre große Chance. ÖSV-Präsident Peter Schröcksnadel erwartet traditionell „sechs bis acht Medaillen“, der größte Druck lastet wie üblich auf Marcel Hirscher. Der Salzburger, 27, weiß damit umzugehen.

Die 44. Alpine Skiweltmeisterschaft wirft ihren Schatten voraus. Von 6. bis 19. Februar werden in St. Moritz Titel vergeben, Tragödien geschrieben, Favoriten bestätigt oder überraschende Außenseiter gefeiert – mit einer Traumfahrt ist Gold niemals eine Utopie. Olympische Spiele und Weltmeisterschaften, diese Faustregel eint sämtliche Großereignisse, haben ihre eigenen Gesetze. Beispiele gibt es dafür sonder Zahl, allein schon der Blick zurück auf die WM 2015 in Vail/Beaver Creek genügt. In der Herrenabfahrt triumphierte damals der Schweizer Patrick Küng: ein krasser Außenseiter, der davor nur zwei Weltcuprennen gewinnen konnte – und danach kein einziges mehr. Und Olympia? In Sotschi 2014 gewann Matthias Mayer gleich bei seiner Siegpremiere Gold.

Küng ist als amtierender Weltmeister in St. Moritz ein Fixstarter im Team der Gastgeber. Dass er, mit einer einzigen Top-10-Platzierung in den bisherigen fünf Saisonabfahrten im Gepäck, zum WM-Wiederholungstäter wird, entbehrt zwar jeder Logik. Es lässt sich allerdings nicht ausschließen. Es wäre ein Schlag ins Gesicht der Konkurrenz – vor allem in jenes der Österreicher.


Die Durststrecke. Der rot-weiß-rote Skifan lechzt nach Erfolgen, sie sind bundesweit von Begehr. Jedoch, speziell in der Abfahrt hat eine Misserfolgsserie hartnäckigen Bestand. Michael Walchhofer ist der bislang letzte österreichische Weltmeister in der Königsdisziplin, die Sternstunde des Salzburgers liegt bereits 14 Jahre zurück. Es gelang, wie passend, 2003 in St. Moritz. Der Hotelier fuhr in Bormio 2005 mit Bronze zudem auch die letzte WM-Abfahrtsmedaille für den ÖSV ein.

Die gegenwärtigen Erfolgsaussichten mögen nicht trüb sein, überschwänglicher Optimismus ist allerdings nicht angebracht. Mit Max Franz (Gröden) und Hannes Reichelt (Garmisch) stellt man immerhin zwei Saisonsieger, die nicht vorhandene Konstanz beunruhigt dennoch.

Zu ÖSV-Präsident Peter Schröcksnadel und seinen Methoden möchte man stehen, wie man will, eines ist der 75-jährige Tiroler aber gewiss nicht: ein Tiefstapler. Schröcksnadel verlangt bei einer Weltmeisterschaft seit jeher „sechs bis acht Medaillen“, so auch in St. Moritz. Bislang durfte sich der Zampano in seinem Vorgehen meist bestätigt fühlen. Zuletzt kam man nur in Val d'Isère 2009 mit fünf Medaillen dieser präsidialen Order nicht nach.

Schröcksnadel kalkuliert die Durchschlagskraft des gesamten ÖSV vor allem mit dem Erfolg seines Superstars. Marcel Hirscher ist „der“ Erfolgsgarant, seine Beständigkeit ist im gesamten Skizirkus unerreicht. Im Optimalfall zeichnet der 27-jährige Ausnahmeathlet allein in den kommenden zwei Wochen für fünf Medaillen (Super-G/Start noch offen, Kombination, Teambewerb, Riesentorlauf, Slalom) verantwortlich. Eine WM ohne Gold für Hirscher mag zwar kein undenkbares Szenario sein – das gebietet der Respekt vor Alexis Pinturault oder Henrik Kristoffersen, seinen Hauptkonkurrenten in den technischen Disziplinen –, es wäre für den Salzburger aber gewiss ein unvorhergesehener Tiefschlag.


Und die ÖSV-Damen? Ein weibliches Pendant zu Hirscher gibt es im rot-weiß-roten Skilager nicht. Das Potenzial dazu hat Anna Veith, die bis zu ihrer im Oktober 2015 bei einem Trainingssturz erlittenen, komplizierten Knieverletzung den einstweiligen Höhepunkt ihrer Karriere erreicht hatte. Nach Monaten des Zweifelns und der Überwindung zahlreicher Widerstände kehrte Veith, 27, vor rund sechs Wochen beim RTL auf dem Semmering auf die Piste zurück. Fortschritte sind seitdem augenscheinlich, im Super-G von Cortina d'Ampezzo fuhr sie als Dritte im erst siebenten Rennen nach dem Comeback und 467 Tage nach ihrem Sturz in Sölden erstmals wieder auf das Podest. Für St. Moritz, Veith startet in Super-G und Riesentorlauf als Titelverteidigerin, ist sie nun ein Stück weit zuversichtlicher. „Ich kann jetzt gelassener in die WM gehen.“

Österreichs Damenteam benötigt Veith jedenfalls dringend, als Leaderin ebenso wie als potenzielle Siegläuferin. Die verletzungsbedingten Ausfälle von RTL-Weltcupsiegerin Eva-Maria Brem, Speedhoffnung Cornelia Hütter und Slalomspezialistin Carmen Thalmann haben die Truppe von Rennsportleiter Jürgen Kriechbaum schwer getroffen. Die Folge: In keiner Weltcupdisziplinenwertungen scheint eine ÖSV-Athletin in den Top drei auf.

Im Schweizer Nobelskiort ist also nicht zwingend mit Medaillen zu rechnen, beste Aussichten darauf hat vermutlich die 23-jährige Tirolerin Stephanie Venier im Super-G. Die zuletzt viel gescholtene, acht Jahre ältere Michaela Kirchgasser spekuliert in der Kombination mit Edelmetall.

US-Power. Aber wer wird der Superstar dieser Weltmeisterschaft? Auf der Herrenseite ist Hirscher erster Anwärter, auch die Norweger Henrik Kristoffersen und Kjetil Jansrud machen sich berechtigte Hoffnungen. Bei den Damen ist die Ausgangslage aber eine ganz andere, vermeintlich offenere.

Mikaela Shiffrin, 21, kommt mit dem Selbstvertrauen von acht Saisonsiegen in den Kanton Graubünden, steuert auf ihren ersten Sieg im Gesamtweltcup zu und hat die beiden vorangegangenen WM-Slaloms für sich entschieden. Ungleich erfahrener ist Landsfrau Lindsey Vonn, die 32-Jährige hält wie Shiffrin bei zwei WM-Goldmedaillen (Abfahrt und Super-G, Val d'Isère 2009).

Und die Schweiz? Der Gastgeber hat dieser geballten US-Power Lara Gut entgegenzusetzen. Gut wurde früh als Wunderkind gefeiert, doch sehnt immer noch ihr erstes WM-Gold überhaupt herbei. Sie würde es nirgendwo lieber als in St. Moritz gewinnen.

Zahlen

7 Goldmedaillen
bei Skiweltmeisterschaften gewann Toni Sailer. Der Tiroler ist der erfolgreichste WM-Starter aller Zeiten.

9 Mal Edelmetall
gewann Österreich bei der WM 2015 in Vail/Beaver Creek. Die ÖSV-Bestmarke datiert aus dem Jahr 1962: In Chamonix eroberte das Team 15 Medaillen.

2840 Meter Seehöhe
So hoch oben ruht das Starthaus der Herren-Abfahrt auf dem St. Moritzer Hausberg Corviglia.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.02.2017)

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