Ušackas: "EU muss zum Mentor für die Ukraine werden"

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Litauens Außenminister Vygaudas Ušackas im "Presse"-Interview über die heiklen Beziehungen seines Landes zu Russland, über eine Perspektive für Kiew und schlechte amerikanische PR in der Raketenabwehrfrage.

Die Presse: Kurz nach ihrem Amtsantritt erklärten Sie in einem Interview im Februar, dass Sie auf russischer Seite eine neue Bereitschaft erkennen, mit Litauen wieder konstruktive Arbeitsbeziehungen aufzubauen. Im August kam es dann zu schweren russischen Zoll-Schikanen gegen litauische Frächter, und vor kurzem übten russische und weißrussische Militärs einen Angriff auf die baltischen Staaten zur Verteidigung der Exklave Kaliningrad. Schauen so konstruktive Arbeitsbeziehungen aus?

Vygaudas Ušackas: Ich wundere mich genauso wie Sie über das russische Verhalten. Nächste Woche sehe ich den russischen Außenminister Sergej Lawrow in Moskau und ich möchte ihm diese Frage auch stellen. Nachdem vor gut einem Jahr die neue Regierung in Vilnius angetreten ist, gab es tatsächlich Botschaften aus Moskau, dass man in den Beziehungen zu Litauen ein neues Kapitel aufschlagen wolle. Es gab es eine Reihe positiver Signale nach zwei Jahren des Stillstands. Dann kamen die Ereignisse im August, die eine eindeutige Diskriminierung litauischer Frächter darstellten und es gab russische Maßnahmen gegen litauische Molkereiprodukte. Auch wir haben uns gefragt, was da eigentlich abläuft?

Und wie fiele die Antwort aus?

Ušackas: Dass Russland sehr wichtig und sehr komplex ist, aber eben auch ein sehr schwieriger Partner. Ich war sehr froh, zu sehen, dass die EU-Kommission auf die Diskriminierung litauischer Frächter sofort reagierte und in Moskau intervenierte. Der Fall zeigte auch, wie wichtig es ist, mit Russland zu reden und dabei geduldig zu sein. Und er zeigte weiters, wie wichtig es für Russland selbst und auch für seine Partner wäre, dass es der Welthandelsorganisation beitritt und sich dem internationalen Wettbewerb und der Herrschaft des Rechts öffnet. Gerade hatten wir in Vilnius ein Treffen der Transportminister aus der EU und aus. Da waren es gerade Transportunternehmer aus China, die sich am lautesten über das russische Zollregime beklagten, besonders über die Korruption und permanent wechselnde Zollvorschriften.

Warum tut sich Moskau eigentlich so schwer im Umgang mit Litauen, aber auch mit den anderen zwei baltischen Staaten. Ist das Kernproblem die Last der Geschichte?

Ušackas: Das müssten Sie eigentlich die Russen fragen. Ich reise jedes Jahr nach Russland, von Kaliningrad bis nach Kamtschaka. Vor zwei Jahren bin ich mit meinem Sohn zwei Wochen durch Sibirien gewandert, habe Schauplätze besucht, an die mein Vater und meine Großeltern während der Stalin-Zeit deportiert worden waren. Wenn man in diesen Dörfern mit einfachen Leuten spricht, trifft man auf die großzügigsten und warmherzigsten Menschen, die beste Erinnerungen an die Deportierten aus den baltischen Republiken haben. Genauso wie etwa mein Vater oder mein Großvater beste Erinnerungen an einfache Russen hatten, die ihnen beim Überleben in der sibirischen Kälte geholfen hatten.

Was ist dann das Problem?

Ušackas: Das Problem ist, dass den einfachen Russen die Wahrheit über die Geschichte, vor allem über den Stalinismus vorenthalten wird. Wir anerkennen die historische Rolle, die die russische Bevölkerung während des Zweiten Weltkriegs beim Kampf und beim Sieg über die Nazis gespielt hat. Gleichzeitig ist es wichtig, zu unterscheiden zwischen dem Leid, Opfermut und Heldentum der Russen auf der einen und den Entsetzlichkeiten des Stalinismus auf der anderen Seite. Der Stalinismus hat sich gegenüber den Russen genauso schuldig gemacht wie gegenüber Litauern, Esten, Letten, Ukrainern oder Polen. Wir müssen den Russen helfen, zu verstehen, dass wir die Russen und den Stalinismus nicht gleichsetzen. Das sind zwei völlig verschiedene Dinge. Solange aber die russische Führung, die Behörden, die Elite und die Bevölkerung dieses Problem nicht offen ansprechen, die Wahrheit über das wahre Geschehen während der Stalin-Herrschaft verschweigen, solange wird es bei den Nachbarn Misstrauen über die wahren Absichten Russlands geben. Das muss man im übrigen auch den Georgiern ganz klar sagen. Auch dort trifft man immer wieder auf einer Verklärung der Stalins und seines Terrorregimes.

Es gibt noch einen anderen Aspekt: das internationale Verhalten Russlands. Ich will nicht Russland einseitig eine Schuld zuweisen. Es gibt auch ein paar große Spieler in Europa, die Verantwortung tragen. Erinnern wir uns nur an die Ostseepipeline, da wiederholte sich das Muster, das zwei große Staaten über die Köpfe kleinerer Länder hinweg Entscheidungen getroffen haben. Da hat der frühere deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder auf Kosten der nationalen Interessen von verbündeten Staaten in der EU und in der Nato Abmachungen mit den Russen getroffen. Leider haben einige westliche Führer Salz in die offenen Wunden von Estland, Lettland, Litauen und Polen gestreut. Ich erwarte, dass die künftige Regierung in Berlin sich sehr bemühen wird, die Rolle der baltischen Staaten anzuerkennen und ihre Stimme im Umgang mit Russland zu hören anstatt sie wie Schröder zu überhören.

Haben Sie eigentlich seit dem Amtsantritt Dmitrij Medwedjews im Kreml Veränderungen in der Moskaus Politik gegenüber den Nachbarn im Vergleich zu Präsident Putin bemerkt?

Ušackas: Unter Russland-Analytikern gibt es zwei Theorien: Die eine besagt, die beiden sind aus einem und dem selben Holz geschnitzt; die andere meint, es gebe sehr wohl Unterschiede. Ich persönlich sehe nicht viele Unterschiede zwischen Putin und Medwedjew. Russland hat sehr klare Interessen, aber die hat ja auch die Europäische Union. Und es wäre wichtig für die EU, dass sie diese Interessen klar artikuliert und versucht, sie transparent gegenüber Russland zu vertreten und gleichzeitig die Befindlichkeiten der Nachbarn Russlands zu berücksichtigen. Genau dafür ist ja auch die östliche Partnerschaft der EU konzipiert worden. Russland muss da überhaupt nicht besorgt sein. Die EU macht ein Angebot an die Nachbarn und es ist deren Sache, zu entscheiden, was sie damit anfangen. Und wir sehen neuerdings zum Beispiel ein großes Interesse bei unserem Nachbarn Weißrussland.

Der weißrussische Präsident Alexander Lukaschenko war ja gerade erst zu Besuch in Litauen. Was war Ihr Eindruck? Meint er es ernst mit einer Annäherung an die EU?

Ušackas: Wichtig ist, dass man mit den Nachbarn spricht. Leider hat Lukaschenko sein eigenes Land lange Zeit selbst abgeschottet. Mit der Ost-Partnerschaft haben wir eine neue Möglichkeit für eine engere Kooperation. Gleichzeitig ließen wir den Präsidenten wissen, dass wir von unserem Nachbarn erwarten, dass wichtige Freiheiten und die Herrschaft des Rechts respektiert werden. Die Leute sollen nicht fürchten müssen, dass sie hinter Gittern landen, wenn sie ihre Meinungen frei äußern, wenn sie sich politisch organisieren oder wenn sie sich ungebunden an politischen Prozessen beteiligen wollen. Die Medien sollen frei über alles berichten können. Man muss aber auch anerkennen, dass das Lukaschenko-Regime zuletzt einige positive Schritte gesetzt hat, zum Beispiel die Freilassung des Oppositionellen Kosulin. Doch es wäre noch mehr zu tun. Genau deshalb wurde Weißrussland zur Teilnahme an der Östlichen Partnerschaft eingeladen. Wir wollen dem Land helfen. Aber wir können unsere Werte – bürgerliche Freiheiten, Respekt für die Demokratie, Rechtsstaatlichkeit – niemanden aufzwingen, wenn es in einem Land kein Verlangen danach gibt. Da kann es eben länger dauern. Deshalb tritt Litauen für eine abgestuftes, konstruktives Engagement gegenüber Weißrussland ein, nicht für seine Ausgrenzung.

Litauen hat auch noch einen dritten, sehr wichtigen und aufregenden Nachbarn, nämlich die Ukraine. Wie beurteilen Sie als Insider denn die dortige politische Lage?

Ušackas: Mit den bevorstehenden Präsidenten- und Parlamentswahlen gibt es natürlich viel Wirbel. Was ich zuletzt beobachtet habe, ist, dass der Enthusiasmus und die Hyperregung sowohl in der Ukraine als auch in der EU vorbei sind, man allmählich zu einer realistischeren Haltung zueinander findet. Die Ukrainer verstehen inzwischen die Herausforderungen und die Komplexität einer EU-Integration besser. Ich sagte meinen ukrainischen Gesprächspartnern schon 1998, sie hätten völlig unrealistische Erwartungen. Damals sprachen sie von einem EU-Beitritt 2002. Inzwischen sehen sie nicht nur die Vorteile, sondern auch die Herausforderungen einer EU-Integration klarer. Auf der anderen Seite erkennt man in der EU immer besser, wie wichtig die Ukraine als geopolitischer Akteur ist: sowohl im positiven als auch potenziell negativen Sinne. Das habt ja auch ihr in Österreich zum vergangenen Jahreswechsel selbst mitbekommen, als kein Gas mehr aus den Leitungen über die Ukraine kam.

Wie soll sich die EU gegenüber der Ukraine verhalten?

Ušackas: Sie muss offener und sehr sensibel gegenüber der Ukraine sein, sie muss dem Land eine europäische Perspektive bieten. Wieso kann die EU der Türkei eine Beitrittsperspektive bieten, nicht aber der Ukraine? Die liegt uns geografisch näher, sie ist eine europäische Nation mit starken christlichen Traditionen. In der EU fürchten manche nach wie vor, das offen auszusprechen. Letztlich steht aber im EU-Vertrag, dass jedes europäische Land der EU beitreten kann. Das sollte man mit Bezug auf die Ukraine klar und deutlich sagen und keine defensive Haltung einnehmen. Man muss der Ukraine eine Perspektive geben, man muss sie von außen anspornen, die richtigen Dinge zu tun und sich nach vorn zu bewegen. Die EU muss zum Mentor für die Ukraine werden Die EU kann da die historische Aufgabe erfüllen, die Ukraine zu einem europäischen Musterland zu machen. Das hätte, wie manche meinen, möglicherweise auch gravierende Konsequenzen für das Verhalten Russlands. Wenn die Ukraine sich verändert, wird Russland folgen.

Ist das, was der EU bisher fehlt, eine klare, durchdachte Ostpolitik?

Ušackas: Die EU-Politik gegenüber dem Osten muss visionärer werden, muss sich mehr auf Länder wie die Ukraine konzentrieren. Wir müssen die Dinge auch offener ansprechen. Die Ukraine muss wissen, dass sie in Europa willkommen ist. Und wir müssen der Ukraine helfen, ihre Entwicklung selbst zu gestalten. Wenn wir das nicht tun, tragen wir zum Stillstand in diesem Land bei. Von einem künftigen EU-Außenminister erwarte ich, dass er gerade in der Ukraine-Frage sehr robust auftreten wird.

Wie schaut aus der litauischen Perspektive aus, dass US-Präsident Barack Obama auf die Aufstellung eines Raketenschenschutzschildes in Tschechien und Polen verzichtet hat?

Ušackas: Nach meinem Wissen soll es ein neues, effektiveres, rascher aufstellbares US-Raketenabwehrsystem geben, das sowohl die Interessen Amerikas auch der europäischen Alliierten abdeckt. Wir vertrauen den amerikanischen Plänen und Absichten. Das Problem ist, dass sie diese ganze Angelegenheit sehr armselig gehandhabt und verkauf haben. Eine Woche lang war auf den Titelseiten litauischer, polnischer und der Zeitungen anderer Staaten von Amerikas Betrug zu lesen. Die neue Strategie der USA ist also sehr schlecht dargestellt worden. Und in Mittelosteuropa schrillen aus historischen Erfahrungen immer dann die Alarmglocken sofort am lautesten, wenn die Leute das Gefühl bekommen, dass große Länder über ihre Köpfe hinweg mit den Russen einen Handel ausmachen.

Wenn Moskau draufkommt, dass es sehr wohl ein US-Raketenabwehrsystem in Mittelosteuropa geben wird, wenn auch ein anderes als das von der Bush-Regierung geplante, werden die Russen dann nicht wieder anfangen, einen Wirbel zu machen?

Ušackas: Die bisherige russische Reaktion ist gemäßigt und konstruktiv. Nach außen hin scheint es jedenfalls so, dass die Russen die Obama-Pläne viel lockerer aufnehmen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.10.2009)

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