„Homegrown terrorists“ mit britischem Pass stellen laut Experten eine größere Gefahr dar als Attentäter aus dem Ausland.
London. Premierministerin Theresa May hielt sich mit den Details zur Identität des London-Attentäters zurück. Nur so viel: „Was ich bestätigen kann, ist, dass der Mann in Großbritannien geboren wurde und dass er vor einigen Jahren vom MI5 überprüft wurde“ wegen Extremismusverdachts, teilte sie am Donnerstag mit. Über die Absicht, einen Anschlag zu begehen, habe es im Vorfeld keine Geheimdienstinformationen gegeben. „Eine Randfigur.“
Trotzdem wirft der Terroranschlag von London ein Schlaglicht auf ein Phänomen, das britische Terrorexperten als eine der größten Bedrohungen einschätzen: die „homegrown terrorists“, also britische Staatsbürger, die sich über den Kontakt zu anderen Extremisten (sei es über das Internet oder persönliche Interaktion) radikalisiert haben. Der Attentäter von London wurde in Großbritannien geboren und ist dort aufgewachsen. Er kam nicht aus dem Ausland, um die britische Hauptstadt in Angst und Schrecken zu versetzen.
3000 potenziell gefährliche Briten
Den Sicherheitsbehörden ist diese Bedrohung von innen gut bekannt: Nach Angaben des Geheimdiensts MI5 überwachen die Sicherheitsbehörden rund 3000 Briten, die sie als potenzielle Terroristen einschätzen. Die meisten davon sind radikale Islamisten. Mays Bemerkung, der Attentäter von London sei eine „Randfigur“ gewesen, bezieht sich wohl auch auf die Tatsache, dass der Mann nicht auf der Liste dieser 3000 Gefährder stand.
Das Phänomen ist grundsätzlich nicht neu. Schon die verheerenden Anschläge vom 7. Juli 2005, als in der U-Bahn und in einem Bus in London Sprengsätze explodierten und 56 Menschen in den Tod rissen, gingen auf das Konto von vier jungen Muslimen mit britischen Pässen. Und auch die zwei Männer nigerianischer Herkunft, die im Mai 2013 in London einen Soldaten der Armee mit Messern und einem Beil auf offener Straße abschlachteten, waren britische Staatsbürger.
Langer Arm der IS-Terrormiliz
Laut einer Studie des konservativen Instituts Henry Jackson Society ist die Gefahr des Terrors aus dem eigenen Land signifikant angestiegen. „Homegrown terrorism“, inspiriert von der Terrormiliz Islamischer Staat, sei „die Hauptbedrohung für die nationale Sicherheit des Vereinigten Königreichs“, schreiben die Autoren des Berichts, der mehr als 260 Verurteilungen mit islamistischem Bezug in Großbritannien von 1998 bis 2015 analysiert hat.
72 Prozent der islamistisch motivierten Straftaten wurden demnach von Briten oder britischen Doppelstaatsbürgern begangen. Konvertiten, heißt es zudem, seien viermal anfälliger für ein Abgleiten in den Terrorismus als Menschen, die als Muslime geboren wurden. Als Hauptradikalisierungsquelle identifizierten die Experten des Instituts das Internet.
Und die Gefahr bleibt hoch: Erst vor zwei Wochen hat der Antiterrorchef des Scotland Yard, Mark Rowley, neue Fakten zur Terrorabwehr der Sicherheitskräfte präsentiert. 13 potenzielle Terroranschläge habe man in Großbritannien seit 2013 vereitelt, sagte er, geplante Messerattacken, Angriffe mit Autos, aber auch „komplexere Anschläge“ mit Schusswaffen. 500 Antiterror-Ermittlungen seien gleichzeitig am Laufen. Seit 2014 gebe es im Durchschnitt jeden Tag eine Festnahme. „All das bedeutet, dass unsere Arbeit schwierig bleibt.“ (raa)
("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.03.2017)