Die Mahlkunst

Mehl ist nicht gleich Mehl: Körnung, Farbe und Geschmack gehören längst ins Rampenlicht. Eine Liebeserklärung in Wort und Bild.

Richtig volles Vollkornmehl, also Mehl, das alle Aromen und Inhaltsstoffe von Getreide hat, muss bedeuten, selbst zu mahlen. Das schreibt Dan Barber in seinem visionären Buch über Gastronomie und Landwirtschaft, „The Third Plate“. „Und wem das jetzt wie der allerärgste Food-Snobismus vorkommt, der möge an Kaffee denken“, ergänzt der New Yorker Koch. „Kein Barista, der etwas auf sich hält, verwendet vorgemahlenen Kaffee. Und immer weniger Leute verwenden zu Hause vorgemahlenen Kaffee.“
Beim Mehl allerdings, da endet jeder Snobismus abrupt. Mehl ist anonym, neutral, unsichtbar. Mit Mehl kann man nicht punkten, über Mehl wird nicht geredet. Es sei denn, es geht um das Gluten oder, weitaus wahrscheinlicher, um „die Glút’n“. Für den Kuchen, den unbedingt alle in unseren sozialen Netzwerken zu sehen bekommen müssen (vor dem Backen, nach dem Backen, halb aufgegessen, ganz aufgegessen), verwenden wir Biobutter. Die Eier sind von Hühnern, die auf Wiesen herumrennen dürfen. Der Zucker ist fairtrade und gern irgendwie braun, weil das Kalorien wettmacht, Vanille muss echt und aus Madagaskar (oder war es Tahiti?) sein, Zitronenschale bio und unbehandelt. Und das Mehl, das wird aus dem Küchenkastl ganz hinten links hervorgekramt. Einmal noch gestreckt, ah, da ist zum Glück noch ein zweites fast leeres Sackerl (wird schon nicht abgelaufen sein, Mehl hält ja ewig). Gott sei Dank: Mit diesem Zusatzrest geht es sich für heute gerade noch mit der Menge aus.
Denn das ist es, wofür wir Mehl brauchen: Menge. Mehl ist der Baustoff, der unsere Stammbaumeier, den Fairtrade-Zucker und die Biobutter zu einem Kuchen aufbläst und für eine schneidbare Form sorgt. Wenn es denn überhaupt zum Einsatz kommt – schließlich gibt es für einen Kuchen mittlerweile keinen bedeutenderen Adelstitel als diesen: „Mehlfrei“. Nur ein paar Brotbackfreaks kümmert es, welches Mehl sie verwenden, aber auch diesen geht es beim Mehl mehr um Wassergehalt, Teigausbeute und das Alter des Sauerteigs als um das, worum sie bei fast allen anderen Lebensmitteln ein großes Brimborium veranstalten: den Geschmack.

Getreidegeschmack. „Wir haben den Geschmack von Getreide verlernt“, schreibt Dan Barber. „Weil wir Getreide nicht mehr wegen seines Geschmacks anbauen.“ Sondern wegen viel Ertrag auf den Feldern und Gleichförmigkeit garantierenden Eigenschaf­ten in den Mühlen und Bäckereien. „Eine Maschinen­semmel erfordert ein Mehl, das immer genau gleich reagiert“, sagt die Müllermeisterin Monika Rosenfellner. Sie erzeugt in ihrem niederösterreichischen Betrieb Mehle wie das „Biodinkelvollkornmehl steinvermahlen“, die genau das haben, was den meisten Mehlsorten heute fehlt: intensiven Geschmack. Geschmack, der einen schlichten Kuchen komplett verändern kann – Mehl, diese angeblich so neutrale Zutat, ist schließlich in vielen Teigen jene, von der die größte Menge im Rezept steht.

Was das von Dan Barber angesprochene frisch gemahlene Mehl angeht, so spricht Rosenfellner zwei Philosophien in der Bäckerszene an: „Der Hype um frisch gemahlenes Mehl ist jung. Die traditionelle Methode sieht vor, dass man Getreide zuerst liegen, es ,ausatmen‘ lässt, mahlt, dann wieder liegen lässt.“ Oft werde in der Industrie Vitamin C beigemengt, damit Mehl schneller altert „und berechenbar wird“. Naturgemäß findet sie als Müllerin an vorgemahlenen Mehlen nichts Schlimmes, weist aber auf die begrenzte Haltbarkeit hin. „Maximal zwölf Monate. Hirse ist empfindlicher, sie verändert schneller ihren Geschmack.“ Den Faktor Ruhe hält Rosenfellner bei gemahlenem Getreide für wichtig. „Man sollte auch mit Ober- und Unterhitze backen, nicht mit Umluft.“ Mittlerweile gibt es auch Bäckereien, die sie als Produzentin des Mehls nennen. Und somit die Zutat Mehl von ihrer Anonymität befreien.

Single Origin. Das hat auch die Bäckerei Ströck getan, die sich auf der Überholspur befindet, mit ihrem Farm-to-table-Lokal Feierabend, akribischer Produktentwicklung und neuerdings mit Agrarforschung: Gemeinsam mit der Boku hat man über 30 alte Weizensorten angepflanzt; heuer gibt es die erste Ernte und die ersten Versuchsmehle daraus. Was sich bewährt, wird verstärkt angebaut, vor allem für Baguette.

Nicht anonym ist die Weizensorte jenes neuen Ströck-Brots, das mit Vollkornbrot, wie man es kennt, nichts zu tun hat: Der Laurenzio-Wecken hat seinen Namen von der verwendeten Weizensorte und wird zudem mit „Single Origin“ beworben: Der Laurenzio-Weizen stammt aus einem Teil des Marchfelds. Für den Geschmack dieses Brots sorgt aber auch die Vermahlung des ganzen Korns in der hauseigenen Steinmühle. Der öl- und aromenhaltige Weizenkeim wird mitvermahlen, das Mehl ist höchstens 24 Stunden alt, „gerade einmal abgekühlt“, wenn es zu Brot wird. Das Brot wird beim Backen etwas dünkler, weil die Enzyme noch hochaktiv sind, erklärt Bäcker Philipp Ströck. „Geruch und Geschmack sind natürlich viel intensiver. Manchen Leuten schon zu intensiv.“ Zu intensiver reiner Weizengeschmack, wohlgemerkt – das spricht Bände über den Geschmacksverlust bei Getreide.

Will man das vielfach stärkere Aroma von ganz frischem Mehl für den eigenen Haushalt, für Kuchen oder Palatschinken, bleibt nur, Getreide selbst zu mahlen, meint Ströck-Patissier und Ko-Brotentwickler Pierre Reboul. Er kann von Proteinluftballons genauso wissenschaftlich und unterhaltsam erzählen wie von Arnold, der Muskelweizensorte, und empfiehlt ausdrücklich, sich im Biomarkt Getreidekörner zu kaufen und sie selbst zu mahlen. „Wenn es nicht für Brot ist, sondern für Gugelhupf oder Mürbteig – supergut.“ Motorbetriebene Haushaltsmühlen für etwa vier bis sechs Kilo pro Stunde bietet etwa die Osttiroler Steinmühle. Das altbackene Drechseldesign sollte man freilich beizeiten überarbeiten. Schließlich könnte frisch gemahlenes Mehl für Foodies irgendwann genauso interessant sein wie Kaffee. 

www.getreidemuehlen.com

www.komomills.at

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