Filmfestival Locarno

Ötzis Rachetrip durch Schnee und Klischees

Die archaischen, fast schon bedrohlichen Naturkulissen, durch die Ötzi (Jürgen Vogel) zieht, sind eine Wucht. Die Handlung ist es leider nicht.
Die archaischen, fast schon bedrohlichen Naturkulissen, durch die Ötzi (Jürgen Vogel) zieht, sind eine Wucht. Die Handlung ist es leider nicht. (c) Port au Prince Pictures
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Felix Randaus „Der Mann aus dem Eis“, eine Leinwandvision der letzten Tage Ötzis, hatte am Dienstag in Locarno Premiere. Der naturalistische Film verlegt „The Revenant“ in die Alpen, wo Pathos aus den Gletscherspalten quillt.

Seit knapp 26 Jahren fungiert Ötzi, der Mann vom Tisenjoch, als mumifizierter Botschafter (und makabres Maskottchen) der Bronzezeit. Und nach wie vor wirft sein unverkennbarer Kadaver Fragen auf. War er Hirte oder Händler, Jäger oder Gejagter? Was suchte er im unwirtlichen Alpenland? Und wie genau kam er ums Leben? Felix Randaus dritter Langfilm, „Der Mann aus dem Eis“, der am Dienstag beim Filmfestival von Locarno außer Konkurrenz Premiere gefeiert hat, gibt spekulativ Antwort. Er lässt die letzten Tage der Gletscherlegende auf eindrucksvolle Weise wieder aufleben. Und seine Auflösung des Krimis überrascht: Ötzi verirrte sich in ein plumpes Rachemelodram und wurde dort von einer Klischeelawine erfasst. Wer hätt's gedacht?

Zugegeben: Den Ambitionen der Filmemacher wird dieses Kurzurteil nicht gerecht. Sie haben gründlich recherchiert und weder Kosten noch Mühen gescheut, um ihrem Werk den Anschein von Authentizität zu geben. Aber was helfen handgeschneiderte Felljacken, der Nachbau eines prähistorischen Dorfes und die linguistische Rekonstruktion einer Frühform des Rätischen, wenn das Resultat wie eine Kreuzung aus „Braveheart“ und „The Revenant“ wirkt? Wenn so gut wie jede Geste, jedes Gefühl und jeder Wendepunkt vom Reißbrett kommt?

Untertitel braucht es hier nicht

Denn „Der Mann aus dem Eis“ ist ein liebevoller Familienvater, verkörpert von Jürgen Vogel. Als Anführer sorgt er für das Wohlbefinden seines Clans, der sich am Ufer eines Baches angesiedelt hat. Ziegen, Flechtwerk, Flötenspiel: ein Idyll in flirrendem Gebirgslicht. Doch eines Tages kehrt Kelab – so heißt unser Held – von der Jagd zurück und findet seinen Weiler in Brand gesetzt. Marodeure haben alles zerstört, seine Familie niedergemetzelt und das Heiligtum der Sippe entwendet. Über die Leiche seiner Frau (Susanne Wuest) gebeugt schleudert er seinen Zorn gen Himmel. Untertitel gibt es nicht, aber man versteht ihn trotzdem. Schließlich hat man diese Szene schon etliche Male gesehen.

Sogleich nimmt Kelab die Verfolgung der Schächer auf – mit einem Säugling, dem einzigen Überlebenden der Attacke, im Gepäck. Und beweist sich unterwegs als echter Mann mit sensibler Seite. Ein Naturbursche, der findig Fährten liest und zur Stärkung Vogeleier auszuzelt. Aber auch ein Herzensmensch, der sich zärtlich um das Baby kümmert und am nächtlichen Lagerfeuer einsame Tränen vergießt. Auf Englisch heißt der Film „Iceman“ – wie ein Thriller aus dem Jahr 2012, in dem Michael Shannon einen gewissenlosen Auftragskiller spielt. Ötzi hingegen ist kein eiskalter Vollstrecker. Immer wieder regen sich Zweifel in ihm. Am Ende muss er erkennen, dass Vergeltung seine Liebsten nicht zurückbringen wird. Und fällt schließlich seinem schlechten Karma zum Opfer. Bei dieser Handlung hätten wohl auch vor 5000 Jahren die Augen gerollt.

Eine urtümliche Kraft

Aber eine gewisse urtümliche Kraft kann man dem Film nicht absprechen, und das liegt vor allem an seiner Ästhetik. Gedreht wurde vor Ort in Südtirol, und die Wucht der archaischen Naturkulissen kommt voll zur Geltung, etwa in einer erhabenen Fahrt entlang eines schroffen Gebirgshangs. Allgemein setzt die Regie gern auf brachialnaturalistische Unmittelbarkeitseffekte: Regen, Schnee und Blendenflecke, die drückende Enge eines Gletscherspalts, die ruppige Brutalität eines Zweikampfs im Wald. Die Abwesenheit verständlicher Sprache akzentuiert die Sinnlichkeit von Bild und Ton – und den Körpereinsatz der Schauspieler. Verhärmte Männergesichter (auch das von „Django“ Franco Nero, der hier einen hartgesottenen Almöhi gibt) stemmen einen Großteil des emotionalen Gewichts. Ob sie's ohne den pompösen Soundtrack schaffen würden?

Das alles erinnert mehr als nur entfernt an Alejandro González Iñárritus Rocky-Mountain-Rachedrama „The Revenant“, von der graublaugrünen Farbpalette über Ötzis struppigen Bärenlook bis hin zu den ausgedehnten Plansequenzen. Nach „Die beste aller Welten“ ist „Der Mann aus dem Eis“ schon die zweite österreichische Koproduktion dieses Jahres, die bei der immersiven Kameraarbeit Emmanuel Lubezkis Anleihen nimmt. Ein Trend, der vom Bestreben zeugt, das Kino als Erlebnisraum von der Heimvideoerfahrung abzugrenzen.

In Locarno (wo es zu Ötzis Zeiten noch gar keine Menschen gab) lief der Film dementsprechend auf der Freiluftleinwand der Piazza Grande - passenderweise bei (und trotz) strömendem Regen. Mit seinen Aufnahmen mächtiger Gipfelketten fügt er sich gut ins Tessiner Landschaftsbild, wirkt fast wie ein natürlicher Auswuchs der Umgebung. Im Hauptprogramm des Festivals dagegen, das vornehmlich Ansätze abseits der Konventionen vorstellt, würde er deplatziert anmuten. „Historienfilme“ sehen dort eher wie Radu Judes „The Dead Nation“ aus: eine kompromisslose Aufarbeitung antisemitischer Traditionen in Rumänien, die die Berichte eines Leidtragenden mit alten Gruppenfotografien kontrastiert, auf denen latente Gewalt in scheinbar harmlosen Posen schlummert. Authentisch ist das nicht. Aber wahr.

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