Polens passive Bürger sind erwacht

A protester holds a copy of the Polish Constitution during an opposition protest at the Market Square in Krakow
A protester holds a copy of the Polish Constitution during an opposition protest at the Market Square in Krakow(c) REUTERS (AGENCJA GAZETA)
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In der Protestbewegung gegen die Regierung formiert sich eine junge weltoffene Zivilgesellschaft, die mit Parteien nichts am Hut hat und Kommunismus nur vom Hörensagen kennt.

Warschau. „Parteiflaggen unerwünscht!“, hieß es Ende Juli bei der größten Demonstration gegen die Justizreform der Kaczyński-Regierung. „Wir sind das Volk!“, skandierten die Protestierenden dagegen immer wieder. Und manche Parteichefs wurden gar ausgebuht. Der Grund liegt nicht darin, dass die beiden liberalen Oppositionsparteien Bürgerplattform (PO) und Die Modernen sowie die kleine Bauernpartei PSL im Parlament seit der Machtübernahme Kaczyńskis Ende 2015 marginalisiert sind. Schuld sind vor allem die Arroganz der Macht in den acht Regierungsjahren der PO (2007-15) und das Auftreten der beiden sich gegenseitig konkurrierenden liberalen Parteichefs Grzegorz Schetyna und Ryszard Petru.

Vor allem aber haben die Proteste gegen Kaczyńskis Justizreform gezeigt, welch großes zivilgesellschaftliches Potenzial in Polen bisher brachlag. Polnische Soziologen haben sich inzwischen auf den plötzlichen Aufbruch einer neuen Protestkultur gestürzt und betonen, dass die Proteste, die schließlich zum Veto des Staatspräsidenten gegen zwei von drei demokratiefeindlichen Reformgesetzen führten, vor allem von jungen bisher politisch gleichgültigen Polen getragen und völlig unabhängig von den Parteien organisiert wurden.

Angewidert vom Parteienzank

Dabei handelt es sich vor allem um Vertreter des Mittelstandes, eine Beobachtung, die Ähnlichkeiten zur Maidan-Bewegung in der Ukraine zeigt. Hier wie dort wurden die Massen vor allem über soziale Netzwerke mobilisiert.

Erneut hatte Jaroslaw Kaczyńskis Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) versucht, umstrittene Gesetzesnovellen mitten in der Nacht und zur Urlaubszeit durch beide Parlamentskammern zu boxen. Dieses zynische Kalkül erboste allerdings diesmal die vom ewigen Parteiengezänk der immer gleichen Exponenten angewiderten jungen Polen. Im Handumdrehen entstanden Facebook-Profile, plötzlich wurde es modisch, auf Snapchat von den Protesten zu berichten. „Viele haben gesehen, dass sie ja gar nicht allein sind“, erklärt ein Demonstrationsnovize. Selbst in kleinen Provinzstädtchen gingen plötzlich Bürger auf die Straße, packten bisher Passive an und zogen Lichterketten um die Gerichte.

Die neuen Proteste haben eine junge, weltoffene Schicht von Polen angezogen, die die sozialistische Volksrepublik nur vom Hörensagen her kennen und deshalb den Demonstrationsaufrufen des Komitees zur Verteidigung der Demokratie (KOD) ferngeblieben sind, als es vor anderthalb Jahren galt, das Verfassungsgericht zu verteidigen. Mit diesem Angriff leitete die PiS Ende 2015 ihre umstrittenen Reformen ein. Schon damals warnten viele ehemalige Dissidenten vor einem Abdriften des Landes in den Autoritarismus, ja gar einem bevorstehenden EU-Austritt. Doch vorstellen konnten sich das die meisten Polen nicht.

Erst der Angriff auf das bereits arg eingeschränkte Abtreibungsrecht im Oktober 2016 mobilisierte erstmals breitere Kreise im sogenannten Schwarzen Protest. Damals hatten sich feministische Initiativen wie die Gruppe Frauenstreik als Koordinatoren mit hohem Mobilisierungspotenzial erwiesen. Solche weitgehend informellen Gruppen haben inzwischen begonnen, eine gemeinsame Organisationsplattform aufzubauen, zu der zunächst auch die Oppositionsparteien eingeladen sind. Bisher fand eine Sitzung statt. Laut Experten hängt der Erfolg der neuen Protestbewegung davon ab, wie flexibel die Parteien im Umgang mit den jungen Bürgerinitiativen sind.

NGO-Gesetz wie in Ungarn

Neues Feuer ins Öl gießen könnte indes auch Kaczyński, dessen PiS bereits weitere umstrittene Ermächtigungsgesetze plant. So soll im Herbst ein Gesetz die NGOs ähnlich wie in Ungarn unter staatliche Kontrolle stellen sowie ein Gesetz ins Parlament gebracht werden, das Staatsbetrieben unter anderem erlaubt, den schweizerisch-deutschen Verlagskonzern Ringier Axel Springer zu Zwangsverkäufen zu bewegen.

Damit ein wichtiger Teil der Oppositionspresse wieder zu 100 Prozent in polnische Hände gerät – und vor allem wieder regierungsfreundlich berichtet. Auch die demokratiefeindliche Justizreform ist ja noch lang nicht ausgestanden. Hier liegt der Ball aber erst einmal beim bisher immer schön PiS-treuen Staatspräsidenten Andrzej Duda.

AUF EINEN BLICK

Zehntausende Polen demonstrierten gegen die Justizreform der nationalkonservativen Regierung. Schützenhilfe erhielten sie aus Brüssel. EU-Vizekommissionspräsident Timmermans konstatierte eine Bedrohung der Rechtsstaatlichkeit. Die Proteste zeigten Wirkung. Ende Juli legte Präsident Duda sein Veto gegen zwei Gesetzesvorhaben ein. Im Herbst könnte es wieder hoch hergehen. Die Regierung plant ein NGO-Gesetz nach dem Vorbild Ungarns.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.08.2017)

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