Pausenglocken statt Geschützdonner

Schüler bei der feierlichen Eröffnung des Herbstsemesters.
Schüler bei der feierlichen Eröffnung des Herbstsemesters.(c) REUTERS (GLEB GARANICH)
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Zum Schulbeginn haben in der Ostukraine die Konfliktparteien einer Feuerpause zugestimmt. Es ist nicht der erste Versuch zur Deeskalation. In der Frontstadt Awdiiwka hoffen die Bewohner, dass die Ruhe diesmal von Dauer ist.

Und dann ertönt auf dem betonierten Hof plötzlich die Titelmelodie der TV-Serie „Dallas“, und die Erstklässler nehmen in Zweierreihen und mit zaghaften Schritten vor dem Schuleingang Aufstellung. Die Mädchen tragen weiße Blusen und schwarze Röcke und haben schneeweiße Schleifen im Haar; die Buben stecken in Anzügen, die sie wie kleine Erwachsene aussehen lassen. Weiße und blaue Luftballons tanzen über den Gesichtern der Kinder, die in den Händen Blumensträuße für die Klassenlehrerin halten.

160 Erstklässler gibt es dieses Jahr in Awdiiwka, 70 allein hier, in der Schule Nummer sechs. Drei erste Klassen hat man einberufen, so viel wie in keiner anderen Schule der Kleinstadt, in der heute 22.000 Menschen leben. Vor dem Krieg waren es 36.000. Der Rest ist vor den Kämpfen geflohen. Jekaterina Medwedkowa, 36, blonder Pagenkopf, steht im Publikum und sieht den Kleinen zu. „Das ist großartig“, sagt sie. „Es gibt wieder Nachwuchs.“

Dann ist Dima aus der 11b an der Reihe. Er trägt die ukrainische Fahne im Stechschritt über den Platz, schreitet erhobenen Hauptes alle Ecken aus, vorbei an den umstehenden Eltern und Lehrern. Die Hymne erklingt. Es gibt ein paar, die mitsingen. Jekaterina Medwedkowa ist unter ihnen.

Der offizielle Schulstart am 1. September wird in der Ukraine mit großem Zeremoniell gefeiert, da mag die Krise noch so schlimm oder der Krieg noch so zermürbend sein.

Auch in der Schule Nummer sechs im ostukrainischen Frontstädtchen Awdiiwka folgt die Eröffnung des Schuljahrs einer über viele Jahre tradierten Choreografie. Jeder weiß, wo sein Platz ist. Die Schulklassen nehmen dort Aufstellung, wo tags zuvor mit Kreide ihr Feld auf den Asphalt gezeichnet wurde. Die örtlichen Honoratioren stehen auf der Tribüne neben Direktorin Viktoria Schljachowa, einer Dame im blitzblauen Etuikleid. Seit Krieg ist, haben sich zu Schljachowa, der Stadtvertreterin, dem orthodoxen Popen und dem Vertreter der örtlichen Kokerei, bei der die meisten Eltern arbeiten, ein Polizist und ein Abgesandter der Armee gesellt. Sie alle wünschen den Kindern ein erfolgreiches Schuljahr. Aber wird es auch ein friedliches werden?

Awdiiwka liegt nördlich von Donezk und damit noch knapp auf ukrainisch kontrolliertem Gebiet. Die Einwohner der Kleinstadt sind leidgeprüft. Rund um Awdiiwka wird gekämpft. Immer wieder treffen Geschosse Wohngebiete. In einigen Blockbauten prangen riesige, von Granaten verursachte Löcher. Im Februar fiel bei zweistelligen Minustemperaturen nach dem Beschuss der Kokerei für mehrere Tage die Wärmeversorgung der Stadt aus.

Seit dem 25. August gilt entlang der etwa 480 Kilometer langen Frontlinie eine Feuerpause. Es ist nicht die erste. Schon im Vorjahr wurde anlässlich des Schulbeginns zwischen der ukrainischen Armee und den prorussischen Separatisten vereinbart, die Waffen ruhen zu lassen. Das Abkommen hielt nur ein paar Tage. Bisher halten sich beide Seiten zurück. Die Beobachter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit (OSZE) registrieren weniger Verstöße als in der Periode davor. In Awdiiwka war am Freitag nur ein lauter Knall eines ausgehenden großkalibrigen Geschosses zu hören. Doch die Lage, das weiß man aus der Vergangenheit, kann schnell kippen.

Der Schulbeginn bzw. die Einschulung ist für Eltern ein Anlass, trotz der instabilen Lage nach Awdiiwka zurückzukehren. Die Schülerzahlen der Schule Nummer sechs steigen langsam, aber beständig. 2015, als die Kampfhandlungen intensiver waren, zählte man 350 Schüler. Jetzt sind es knapp 500.

Die Eltern der kleinen Lisa, die am Freitag ihren ersten Schultag hatte, sind im vorigen Herbst zurückgekehrt. Zwei Jahre lang lebten sie als Inlandsvertriebene in Melitopol im Süden des Landes. „Mein Mann und ich sind Ärzte. Wir werden hier gebraucht“, sagt Irina Ljubenitzkaja, Lisas Mutter. Natürlich wisse sie, sagt die Ärztin, dass es hier keine komplette Sicherheit gebe. „Wir hoffen, dass alle Seiten mitmachen und der Konflikt sich beruhigt.“ Offiziell zählte man mit Ende August knapp 1,6 Millionen Menschen als Inlandsvertriebene in der Ukraine.

Neue Spielplätze

Auch Jekaterina Medwedkowa hat sich anlässlich des Schulbeginns zur Heimkehr entschlossen. Ihre 14-jährige Tochter Anna-Maria lernte in den vergangenen drei Jahre an zwei verschiedenen Schulen. Medwedkowa wünscht sich für ihre Tochter Kontinuität und eine gute Ausbildung. „Ich gewöhne mich schnell ein“, sagt das Mädchen mit der knallroten Jacke. Was sich in Awdiiwka seit ihrer Abfahrt geändert habe? „Nicht viel“, so Anna-Maria. „Neue Fitnessgeräte in den Höfen.“ Tatsächlich ist es, als würde nach einer langen Zeit des Ausnahmezustands wieder eine gewisse zivile Unbeschwertheit in die Stadt zurückkehren. Reparaturen werden erledigt. Cafés haben geöffnet. An lauen Sommerabenden sieht man viele Kinderwagen im Park. Hilfsorganisationen haben neue Spielplätze und Fitnessparcours errichtet. Auch die Schule Nummer sechs, die in den Kämpfen beschädigt wurde, wird mit vereinten Kräften renoviert: Geld kommt von ukrainischer Seite, von Polen und der örtlichen Kokerei.

Fragt man Direktorin Schljachowa nach ihren Wünschen, steht das ungestörte Lernen an erster Stelle. Natürlich würden die Kinder und Jugendlichen über die Gefahren von Minen und das richtige Verhalten bei Beschuss aufgeklärt. Am wichtigsten aber sei die Erziehung zu „guten, verantwortungsvollen Menschen“. „Wir leben im Krieg“, sagt Schljachowa. „Aber wir müssen nicht ständig über ihn reden.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.09.2017)

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