EU/Deutschland: Merkel dominiert, reformiert aber nicht

Angela Merkel hat in der EU lang keine persönlichen Verbündeten gefunden. Nur bei Frankreichs Präsident, Emmanuel Macron, stimmt die Chemie.
Angela Merkel hat in der EU lang keine persönlichen Verbündeten gefunden. Nur bei Frankreichs Präsident, Emmanuel Macron, stimmt die Chemie. (c) REUTERS
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Die Kanzlerin hat in den zwölf Jahren ihrer Amtszeit keine einzige wesentliche EU-Reform auf den Weg gebracht – und wird es auch künftig nicht tun.

Wien/Berlin. Für viele ist sie der Inbegriff von Starrheit, für andere der Inbegriff von Stabilität. Angela Merkel hat in den vergangenen zwölf Jahren die EU dominiert wie kein anderer Politiker – aber auch gebremst. In ihrer proeuropäischen Haltung unterscheidet sie sich wenig von ihrem Herausforderer, dem ehemaligen EU-Parlamentspräsidenten Martin Schulz. Aber sie hat bisher keinen Willen gezeigt, die EU zu verändern. Sie will lediglich, dass alles funktioniert. Das machte sie auch im aktuellen Wahlkampf deutlich: Sie möchte, dass die EU-Außengrenzen endlich strenger kontrolliert werden, sie will, dass eine gemeinsame Asylpolitik besser umgesetzt wird. Sie will, dass der Euro und der Wettbewerb eine problemlose Basis des Binnenmarkts bilden. Pointierter ist lediglich ihre Politik gegenüber Drittländern: Klarer als etwa die österreichische Regierung steht sie hinter den umstrittenen Handelspakten mit den USA und Kanada. Sie verteidigt härter als alle anderen EU-Partner die Sanktionen gegen Russland.

Wegen ihrer Europapolitik war die Kanzlerin im aktuellen Wahlkampf von links und rechts attackiert worden, aber die Kritik griff bei ihren Kernwählerschichten nicht. Mit dem Abebben von Euro- und Migrationskrise ist ihr langweiliger europapolitischer Stabilitätskurs wieder en vogue. Die Deutschen, so analysierte zuletzt der „Economist“, seien wieder überzeugt, ihre Kanzlerin habe sie vor dem „Durcheinander“ ringsum bewahrt.

Vier französische Präsidenten

Merkel musste vor zwölf Jahren erst in die Rolle der Europapolitikerin hineinfinden. Sie tat sich anfangs so schwer, dass ihr Altkanzler Helmut Kohl völliges Unvermögen vorwarf. Erst mit der Zeit fand sie grenzüberschreitend Anerkennung. Allein wer sich vergegenwärtigt, wie viele französische Präsidenten und britische Premierminister an ihr vorbeigezogen sind, muss zugestehen, dass sich Merkel zu einem politischen Stabilitätsfaktor der EU entwickelt hat. Sie kooperierte in Paris mit vier Präsidenten: Jacques Chirac, Nicolas Sarkozy, François Hollande und Emmanuel Macron. In London waren es vier Premierminister: Tony Blair, Gordon Brown, David Cameron und Theresa May.
Angela Merkel hat sich nie als Reformerin Europas einen Namen gemacht, sie etablierte sich als Bewahrerin. Wenn andere die EU verkleinern, verlassen oder radikal verändern wollten, hielt sie eisern am Status quo fest, verteidigte die erreichten Vorteile des Binnenmarkts und schob eine eventuelle Vertragsänderung wie eine heiße Kartoffel vor sich her. Die große europäische Visionärin war sie nie. Das weiß auch der langjährige Berater der deutschen Bundesregierung, Werner Weidenfeld. „Sie will zuverlässig sein und nur behutsam etwas voranbringen. Das ist innenpolitisch genauso wie europapolitisch ihre Linie.“ Riskante Kurswechsel sind nicht das Ihre. Während Kohl die Währungsunion, die große Erweiterung um Mittel- und Osteuropa und die Öffnung der Binnengrenzen mit auf den Weg gebracht hat, hat Merkel kein einziges neues EU-Projekt aufs Tapet gebracht.

Sie schlug Ideen für eine Sozialunion ebenso aus wie Vorschläge zu einer Demokratisierung der Union. Die einzige Option für eine Veränderung, die sie gemeinsam mit Frankreichs Präsident, Emmanuel Macron, entwickelte, war ein Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten: eine EU, in der Berlin und Paris mit einer noch engeren Kooperation etwa bei der Digitalisierung vorangehen oder in der die Länder der Währungsunion eine Vorreiterrolle spielen sollten.

Insbesondere bei der Schulden- und später bei der Migrationskrise wurde deutlich, dass Merkel zwar die EU dominiert, in ihr aber kaum persönliche Verbündete hat. Sie war von Frankreichs Präsident François Hollande irritiert, der versucht hatte, sich in der Schuldenkrise wie auch in der Flüchtlingskrise aus der Verantwortung zu stehlen. Merkel fand nie einen Draht zu Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, dessen Bestellung sie 2014 nicht aktiv unterstützt hatte. Merkel kooperierte nur in notwendigstem Maße mit den Spitzen der österreichischen Bundesregierung, deshalb kam es etwa in der Flüchtlingskrise zu einigen Kommunikationsproblemen. Das größte Problem hatte sie mit ihrem ungarischen Amtskollegen, Viktor Orbán. Obwohl er derselben Parteienfamilie angehört, hat er die öffentliche Aufregung um den „Wir schaffen das“-Sager innenpolitisch für populäre Hasstiraden gegen Merkel ausgenutzt.

Richtig gut verstanden hat sich die Langzeitkanzlerin bisher nur mit dem neuen französischen Präsidenten, Emmanuel Macron. Sie hat in ihm jemanden gefunden, der sie respektiert und der äußere Umgangsformen pflegt, die ihr angemessen erscheinen. Ob damit die Basis für eine neue deutsche Europapolitik in den nächsten vier Jahren geschaffen ist, darf dennoch bezweifelt werden.

Auf einen Blick

Europapolitikerin Merkel. Die deutsche Langzeitkanzlerin dominiert zwar die EU, trug aber bisher nicht zu weitreichenden Reformen oder einer Weiterentwicklung der Gemeinschaft bei. Während der letzte CDU-Bundeskanzler, Helmut Kohl, die große Erweiterung, die Einführung des Euro und die Öffnung der Binnengrenzen initiierte, fehlten bei Merkel bisher derartige Zukunftsprojekte. Sie versteht sich als Bewahrerin der Europäischen Union und des Euro. Damit trifft sie allerdings auch das Bedürfnis ihrer Kernwählerschichten, die keine Veränderungen anstreben.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.09.2017)

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