Die Sozialdemokratie in der Identitätskrise

Sozialdemokratische Parteien in Europa verlieren eine Wahl nach der anderen und müssen sich wohl neu erfinden. Bloß: Wie?

Wien. Es war kein guter Herbst für Europas Sozialdemokraten. Am 24. September musste die deutsche SPD eine historische Wahlschlappe – nur 20,5 Prozent – einstecken und entschied sich für einen Erneuerungsprozess in der Opposition. Es ist nicht ausgeschlossen, dass die SPÖ diesem Beispiel folgen wird, nachdem sie bei der Nationalratswahl am Sonntag Platz eins an die ÖVP verloren hat und sogar um Platz zwei zittern muss.

Kommendes Wochenende droht auch der tschechischen Schwester der Abschied von der Macht. In den Umfragen liegt die CSSD nur noch auf Platz vier.

Binnen vier Wochen könnten also drei sozialdemokratische Parteien abgewählt werden. Innerhalb der Europäischen Union gäbe es dann nur noch fünf Regierungen mit sozialdemokratischer Beteiligung, in Malta, Portugal, Rumänien, Schweden und der Slowakei.

Das Schwächeln der einst stolzen Arbeiterparteien ist zu einem europäischen Phänomen geworden. In manchen Staaten sind die Sozialdemokraten nicht einmal mehr im Parlament vertreten (Ungarn, Polen) oder nur noch mit wenigen Sitzen (Slowenien, Litauen). In den Niederlanden verlor die Partei der Arbeit im März fast 20 Prozentpunkte und ist jetzt, mit sechs Prozent, etwa gleich schwach wie die griechische Pasok, die ihr Wahldebakel schon 2015 erlebt hat.

Über die Ursachen für diesen Absturz wird seit Jahrzehnten gestritten. Schon 1983 hat der Soziologe Ralf Dahrendorf das Ende des sozialdemokratischen Zeitalters ausgerufen. Die Sozialdemokratie, so Dahrendorfs These, hätte sich tot gesiegt, weil sie ihre Ziele erreicht habe. Was die Sozialdemokratie bestritten hat. Zumindest eine Identitätskrise kann sie mittlerweile aber nicht mehr leugnen. In zentralen Fragen scheint sie hin- und hergerissen. In der Wirtschaftspolitik zwischen linken und marktfreundlicheren Theorien, in der Flüchtlingspolitik zwischen Offenheit und einem restriktiven Ansatz. Verwirrt und enttäuscht wenden sich einstige Stammwähler, die mit den Veränderungen am Arbeitsmarkt (Technik, Migration) zu kämpfen haben, ab und populistischen Parteien zu, die sie mit radikalen Heilsversprechen locken.

Zwischen Macron und Corbyn

Auf der Suche nach dem richtigen Rezept für die innere Reform blicken die gemäßigten Sozialdemokraten derzeit nach Frankreich und die Linken nach Großbritannien. In Frankreich wurde Emmanuel Macron mit einer Bewegung, die sozialdemokratische mit liberalen Positionen kombiniert, im Mai Staatspräsident. In Großbritannien erlebt Labour-Chef Jeremy Corbyn gerade seinen dritten Frühling – mit einem dezidiert linken Kurs. (pri)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.10.2017)

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