Sinai-Massaker: Sicherheitskräfte ignorierten Drohungen der Jihadisten

Symbolbild Sinai Anschläge.
Symbolbild Sinai Anschläge.(c) APA/AFP/STR (STR)
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Extremisten forderten die Menschen im Ort Rawda noch vor dem Attentat mit 305 Toten auf, nicht mit Sicherheitskräften zu kooperieren und keine Sufi-Rituale mehr durchzuführen. Doch von den Sicherheitskräften kam keine Hilfe. Die Bewohner blieben auf sich allein gestellt.

Kairo. Es sind neue, furchtbare Details zum Attentat auf die Moschee im Nordsinai, die nun in Ägyptens Medien bekannt werden. Offenbar waren die Bewohner des Dorfes Rawda vor dem Anschlag massiv von militanten Islamisten bedroht worden, ohne dass die Sicherheitskräfte etwas unternahmen. Bei ihrem Angriff am Freitag hatten die Terroristen dann alle Zeit der Welt. Sie töteten nach offiziellen Angaben 305 Menschen, darunter 27 Kinder. Das ägyptische Nachrichten-Onlineportal Mada Masr zitiert Anwohner und Augenzeugen, die übereinstimmend berichten, dass die Terroristen eine Dreiviertelstunde lang ungestört ihr blutiges Werk verrichten konnten.

Zunächst betraten während der Predigt drei Bewaffnete den Gebetsraum, der Platz für 500 Menschen bietet und begannen, um sich zu schießen. Einigen wenigen Betenden gelang die Flucht durch die Fenster, bevor die Moschee schließlich von bis zu zwei Dutzend Bewaffneten umstellt wurde. Die Angreifer hatten so viel Zeit, dass sie sogar noch umliegende Häuser durchsuchten und dort alle Männer erschossen. Bevor sie sich zurückzogen, zündeten sie die Autos im Dorf an, sodass die Verletzten nicht abtransportiert werden konnten. Die ersten, die mit Autos Verletzte wegbrachten, waren Einwohner des Nachbardorfes. Später kamen auch wenige Krankenwagen. Das einzige Spital in der Umgebung war vollkommen überfordert. Angehörige brachten die Verwundeten daraufhin in weiter entfernte Krankenhäuser am Suezkanal. Der Dorffriedhof war zu klein, um all die Toten zu bestatten. Daher wurde im Nachbardorf Mazar ein Massengrab ausgehoben.

Vor dem Anschlag hatten Extremisten im Dorf Flugblätter verteilt und die Einwohner aufgefordert, nicht mit dem Sicherheitsapparat zusammenzuarbeiten und alle Sufi-Rituale einzustellen. Auch einer der lokalen Stammesführer war von den Militanten aufgesucht worden. Sie warnten ihn davor, weiterhin Sufi-Versammlungen zuzulassen. Die Moschee im Dorf war bekanntes Zentrum eines im Nordsinai verbreiteten islamischen Sufi-Ordens. Sufis sind Sunniten, die einer eher spirituellen Lesart des Islam folgen und die den Militanten daher ein Dorn im Auge sind. Immer wieder wurden Sufi-Schreine im Nordsinai zerstört. Vergangenes Jahr verschleppten Extremisten des sogenannten Islamischen Staates (IS) den mehr als 90 Jahre alten Sufi-Scheich Suleiman Abu Heraz. Sie enthaupteten ihn und stellten das Video davon ins Internet.

Sufi-Scheichs gegen Kultur der Gewalt

Bisher waren die meisten Opfer der Jihadisten im Nordsinai Angehörige der Sicherheitskräfte oder Christen. Der ägyptische Jihadisten-Experte Ahmad Zaghloul erklärt im Gespräch mit der „Presse“, warum der IS im Nordsinai mit dem Attentat auf die Sufis nun eine neue Front eröffnet: „Der IS lebt davon, konfessionelle Spannungen zu schüren, wie im Irak, in Syrien und am Golf zwischen Schiiten und Sunniten. Aber hier in Ägypten gibt es keine Schiiten. Deswegen versuchen sie, zwischen Christen und Muslimen einen Graben aufzureißen und jetzt auch zu den Sufis.“ Es gebe grundlegende theologische Meinungsverschiedenheiten, vor allem was Heiligenkult und Schreine der Sufis anbelangt, erklärt er. „Alle fundamentalistischen Auslegungen des Islam stehen dem kritisch gegenüber. Es gab aber nur seitens der Jihadisten im Sinai Angriffe auf Sufis, und das hat etwas mit der politischen und gesellschaftlichen Lage zu tun.“ Denn die Sufis sind für die Jihadisten ein Störfaktor. „Die Sufis im Sinai sprechen sich gegen die Kultur der Gewalt aus. Deren Scheichs versuchen, jungen Menschen dieses Gedankengut auszureden. Daher hatten die Jihadisten in manchen Gegenden Schwierigkeiten, Anhänger zu finden. Der IS publizierte daraufhin schriftliche Drohungen.“

Es stellt sich die Frage, warum Ägyptens Sicherheitskräfte, die im Nordsinai massiv präsent sind, diese Drohungen nicht ernst genommen haben. Die Bewohner des angegriffenen Dorfes waren völlig auf sich allein gestellt. Eine der Zufahrtsstraßen zur Moschee hatten sie aus Angst vor Autobomben schon vor Wochen mit einem gefällten Baum blockiert. Das Massaker vom Freitag konnten sie damit nicht verhindern.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.11.2017)

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