Analyse: Die vielen Fehler der ukrainischen Revolutionäre

Die orangen Leitfiguren versäumten es, die politischen Spielregeln zu ändern.

MOSKAU/KIEW. Wenn Viktor Juschtschenko über die vergangenen fünf Jahre der Ukraine spricht, durchleidet er offensichtlich Qualen. Er grübelt – und kommt doch zu dem einen Ergebnis: Nie zuvor hätten die Bürger besser und freier gelebt. Dass der Geist der Orangen Revolution aber verflogen ist, hätten seine Ex-Mitstreiter zu verantworten, sagte er im Interview mit der „Presse“, allen voran seine populistische Ex-Weggefährtin Julia Timoschenko. Vor fünf Jahren, als er noch an seiner Dioxinvergiftung laborierte, hätten es seine untreuen Gesinnungsgenossen verabsäumt, ein effizienteres Regierungsmodell zu schaffen.

Der gute Juschtschenko gegen die böse „Lady Ju“? So einfach ist die Welt nicht hinter den Karpaten. Die Paradefiguren der Revolution hatten von Anfang an kaum zueinander gepasst. Was im Überschwang der Revolution als Monolith daherkam, war in Wahrheit eine situative Allianz heterogener Kräfte.

Streitereien von Anfang an

Zuweilen ergänzten sie einander sogar: Er, der besonnene Denker, talentierte Banker, unverbesserliche Zauderer und konservative Apologet einer freien Marktwirtschaft; sie, die eloquente Volkstribunin mit der Überportion Machtinstinkt und Rachegefühlen gegenüber Oligarchenkonkurrenten früherer Jahre. Die Risse traten bald zutage. Juschtschenko, der Timoschenko 2005 wider Willen zur Regierungschefin machte, stieß sich an ihrer populistischen Sozial- und Reprivatisierungspolitik. Allein: Timoschenkos Popularität stieg. Aus Angst davor stattete Juschtschenko seine engsten Vertrauten mit größten Machtbefugnissen aus. Das interne Gerangel diskreditierte nicht nur die Revolutionäre, es ließ auch die im russischsprachigen Osten starke „Partei der Regionen“, deren Chef Viktor Janukowitsch durch die Niederlage bei der Wahl 2004 schwer getroffen war, wieder erstarken.

Als einen von Juschtschenkos größten Fehlern sehen Beobachter, dass er Anfang 2005 ständig ins Ausland reiste, anstatt rasch eine Brücke zu den von der Revolution verdatterten Leuten in der Ostukraine zu bauen. Zwar fand er aus dem Wissen um die Wirtschaftsmacht der Ostukraine bald ein gutes Einvernehmen auch mit mächtigen Kräften in der Janukowitsch-Partei. Die kulturellen, weltanschaulichen und politischen Risse zwischen Ost und West blieben aber erhalten. Dies auch, weil der auf einen Nato-Beitritt bedachte Juschtschenko die historischen Differenzen mit Russland anheizte. Vergeblich wartete Juschtschenko hingegen auf ein Beitrittssignal vonseiten der EU.

Wie die Revolution von 1848

Zu Hause blieben er und Timoschenko jene Taten schuldig, die das Land in eine stabile Demokratie verwandeln hätten können. Gewiss, Pressefreiheit und faire Wahlen überdauern als Errungenschaften des nationalen Kraftakts. Allein, die politischen Spielregeln wurden nicht geändert und die Ukraine steckt auch vor der Präsidentenwahl am Sonntag „in der Grauzone des labilen Pluralismus“, wie der Publizist Mykola Rjabchuk meint: Neue Machtstrukturen seien nicht geschaffen worden, die Institutionen blieben dysfunktional, die Eliten fragmentiert. Und weil der Präsident dezidiert auf eine Musterung früherer Funktionäre, Wahlfälscher und korrupter Figuren verzichtet habe, sei die Revolution schon im Februar 2005 gescheitert.

So ähnle die Revolution 2004 nicht den Umbrüchen von 1989 und 1991, sondern der Revolution von 1848, meint der Londoner Ukraine-Experte James Sherr: „Auch 1848 wurde die alte Ordnung zerstört, während die Machtquellen und -strukturen intakt blieben.“ Wirtschaftliche Lage, S. 15

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.01.2010)

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