Vanessa Redgrave: „Du musst Menschen helfen“

Vanessa Redgrave nahm sich an ihren Eltern ein Vorbild, die einst Geld für jüdische Flüchtlinge organisierten.
Vanessa Redgrave nahm sich an ihren Eltern ein Vorbild, die einst Geld für jüdische Flüchtlinge organisierten.imago/Insidefoto
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Schwerpunkt: Geben Sie ist nicht nur als Schauspielerin bekannt, sondern auch für ihr humanitäres Engagement, etwa als Botschafterin für Unicef – zuletzt hat die 80-jährige Vanessa Redgrave das Engagement für Flüchtlinge zum Leitmotiv ihres Alters gemacht.

„Wir müssen hier ganz spezifisch sein“, meint Vanessa Redgrave zu Beginn des Gesprächs. Denn das Thema bewegt die 80-Jährige stärker als so mancher ihrer Filme. Das Engagement für Flüchtlinge ist zum großen Leitmotiv ihres Alters geworden, führte sogar zu ihrem Debüt als Dokumentarfilmerin. Aber dieses karitative Engagement reicht bis in ihre frühe Kindheit zurück.

Weihnachten ist als Fest des Gebens und der Großzügigkeit bekannt. Deckt sich das mit Ihren Erfahrungen?

Vanessa Redgrave: Das würde ich schon so sagen. Eines der wichtigsten Bücher meines Lebens, das mein humanitäres Denken entscheidend geprägt hat, habe ich zu Weihnachten geschenkt bekommen. Ich war damals vier, aber ich konnte schon sehr früh lesen. Eine ältere Verwandte meiner Mutter war Oberin in einem katholischen Nonnenkloster, und die gab mir zum Fest das Buch „The Pilgrim's Progress“ von John Bunyan, einen Klassiker der englischen Literatur. Das ist eine religiöse Geschichte, die den allegorischen Weg einer Seele ins Jenseits schildert.

Schwieriger Stoff für eine Vierjährige.

Absolut. Trotzdem hat es mich zutiefst geprägt. Wenn du dir das heute durchliest, denkst du dir: Was soll denn das? – Aber es hat mir eine Vision für das Leben gegeben. Ich wusste, was ich zu tun hatte. Denn danach dachte ich mir: Du musst dich wie „Christian“ bzw. „Christ“, die Hauptfigur der Geschichte, verhalten, du musst Menschen helfen. Letztlich zeigt das, dass man bei Kindern ansetzen muss. Das habe ich auch bei meiner langjährigen Arbeit für Unicef gemerkt. Solange sie noch nicht mit Prüfungen bombardiert werden, sind sie wahnsinnig hilfsbereit.

Was haben Sie als Kind Karitatives gemacht?

Während der Bombenangriffe im Zweiten Weltkrieg wurde ich zu Verwandten im Norden Englands geschickt. Damals wohnte ich bei einer älteren Cousine meiner Mutter – zusammen mit anderen Evakuierten. Mit einem Sechsjährigen organisierte ich eine Benefizveranstaltung, wo ich meinen ersten schauspielerischen Auftritt hatte. Der endete aber fast in einem Desaster.

Warum?

Ich sollte auftreten und sagen: „Ich bin schiffbrüchig. Und ich habe alles verloren außer“ – dann kam eine Liste von 25 Dingen. Aber ich konnte mich an keines davon erinnern. Ich stand nur da, starrte wie versteinert in unser Publikum und dachte mir „Oje, wir werden aber nicht viel Geld einnehmen.“ Da trat mein sechsjähriger Freund dazu und sagte: „Ladies and Gentlemen, Vanessa hat alles verdorben. Wir werden nochmal neu anfangen.“

Haben Sie dann was eingenommen?

Es waren 14 Leute im Publikum, von denen zahlte jeder einen Halfpenny, was uns damals wie ein ziemlich großer Betrag vorkam. Wir schickten das Geld an die Handelsmarine. Denn man hatte uns erklärt, dass die unsere Nahrungsmittel über den Atlantik brachte und wir ohne sie nichts zu essen hätten. Letztlich war das der Anfang meines humanitären Engagements.

Sie engagieren sich ja jetzt besonders für Flüchtlinge, haben dieses Jahr Ihre Dokumentation „Sea Sorrow“ präsentiert. Wie kam es zu diesem Einsatz?

Ich hatte auch das Vorbild meiner Eltern. Die setzten sich mit anderen Schauspielern dafür ein, Geld für jüdische Flüchtlinge aufzutreiben. Und sie schrieben Briefe an das britische Innenministerium, um etwa Oskar Kokoschka ein Visum zu verschaffen. 1938 war die Situation ähnlich wie heute: Nur dass in diesem Fall die Menschen vor den Nazis flohen und ihnen die Chamberlain-Regierung keine Einreise gewährte. Aufgrund meiner eigenen Erfahrungen konnte ich mich gut mit dem Schicksal von Flüchtlingen identifizieren. Ein Auslöser war auch der Tod des Jungen Aylan Kurdi, der mit seiner Mutter und seiner Schwester bei der Überfahrt ertrank, weil sie nicht mit der offiziellen Fähre übersetzen konnten. Damals habe ich eine erste Performance auf die Beine gestellt, um Spendengelder zu organisieren. Warum ist es nicht möglich, diesen Menschen eine legale und sichere Passage zu ermöglichen? Aber die europäischen Regierungen wollen sie lieber tot sehen. Die wollen, dass diese Menschen ertrinken.

Da sind Sie sich sicher?

Das sage ich ganz bewusst so. Nicht jede Regierung, aber in der Gesamtheit wollen sie das. Warum sind Tausende von Flüchtlingen gestorben? Warum würden sie sonst die libysche Küstenwache finanzieren? Gerade habe ich ein Video gesehen, wie eines dieser Schiffe ein Flüchtlingsboot zum Kentern gebracht hat. Und so etwas wird nur aufgedeckt, weil eine Journalistin an Bord war. Wir dürfen einfach nicht vergessen: Diese Menschen könnten wir selbst sein.

In Ihrer Heimat England ist ja das Thema Einwanderer spätestens seit dem Brexit ebenfalls sehr negativ besetzt.

Der hat leider die öffentliche Stimmung kippen lassen. Mit schändlicher Unterstützung der Medien, die mit fast schon faschistischen Methoden über Flüchtlinge hergezogen sind.

Sie stehen dem Brexit also nicht besonders positiv gegenüber?

Garantiert nicht. Ich will jetzt keine großen Reden zu dem Thema schwingen, dafür haben wir gar nicht die Zeit, und wir verlieren das eigentliche Thema aus den Augen. Nur so viel: Der Brexit wird die Menschen in England wie ein Tsunami treffen, und die meisten davon haben keine Ahnung, was sie da erwartet. Denn niemand hat es ihnen gesagt. Das ist furchteinflößend. Für die Flüchtlingssituation ist das auch fatal. Denn die sind völlig aus dem Blickfeld verschwunden, obwohl sie immer noch in großen Zahlen sterben. Und durch den Brexit wird das Leben der Menschen in England zu einem solchen Horror, dass sie garantiert nicht mehr an die Nöte anderer denken werden.

Steckbrief

Vanessa Redgrave
(geb. 1937) spielte in zahlreichen Filmen wie „Maria Stuart, Königin von Schottland“, „Die Damen aus Boston“ und „Wiedersehen in Howards End“. Für ihre Rolle in „Julia“ gewann sie 1978 den Oscar als beste Nebendarstellerin, daneben war die Britin fünf weitere Male für einen Oscar nominiert.

Engagement
Die Schauspielerin demonstrierte unter anderem gegen Nuklearwaffen, den Vietnamkrieg, machte sich aber auch für die IRA und die PLO stark. Als Unicef-Botschafterin engagierte sie sich gegen den Irakkrieg.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.12.2017)

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