Wenn van Goghs Gemälde laufen lernen

125 eigens geschulte Künstler malten in Vincent van Goghs Stil einen ganzen Animationsfilm.
125 eigens geschulte Künstler malten in Vincent van Goghs Stil einen ganzen Animationsfilm.(c) Lunafilm
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„Loving Vincent“ ist der erste in Öl auf Leinwand handgemalte Spielfilm der Welt: In 65.000 Einzelbildern erzählt er von den mysteriösen Todesumständen van Goghs – und versetzt dessen berühmteste Werke in Bewegung. Jetzt im Kino.

Die Punkte auf dem Kleid der Bäuerin hätten sie sich sparen können. Rote Punkte auf dunkelblauem Grund zu animieren, das habe für Kopfschmerzen gesorgt, sagt Hugh Welchman, der gemeinsam mit seiner Frau, Dorota Kobiela, den Film „Loving Vincent“ gedreht hat. Rote Punkte, die, wenn die Bäuerin sich bewegt, in jedem Frame versetzt sind – was im Fall von „Loving Vincent“ heißt: die in jedem einzelnen Einzelbild aufs Neue platziert werden mussten. Mit Pinsel und Öl auf Leinwand. Ganz schön mühsam. Die Zuschauer hätten ihnen ein Kleid ohne Punkte wohl vergeben, sagt Welchman. Aber: „Wir wollten, dass alles genau wie im Gemälde aussieht.“ Und Vincent van Goghs „Junge Bäuerin mit Strohhut, vor einem Weizenfeld sitzend“ trägt nun eben ein rotgetupftes Kleid.

Die „Junge Bäuerin“ ist eines der vermutlich 864 Ölgemälde, die van Gogh in seiner nur zehnjährigen Schaffensphase gemalt hat. 77 davon – darunter auch berühmteste wie das „Nachtcafé“ oder die „Sternennacht“ – haben Kobiela und Welchman zum Leben erweckt: Mit einer Mannschaft aus insgesamt 125 eigens in Animationstechnik und Ölmalerei geschulten Künstlern aus der ganzen Welt haben sie einen Film geschaffen, der zur Gänze aus Ölbildern besteht. Rund 65.000 Einzelbilder (zwölf pro Sekunde) sind es, die in jahrelanger Handarbeit in einem Studio in Polen gemalt wurden – auf der Basis von Filmaufnahmen, in denen mit Schauspielern (darunter Saoirse Ronan und Jerome Flynn) van Goghs Gemälde detailgetreu nachgestellt wurden. In van Goghs Stil und unter genauer Einhaltung seines künstlerischen Prozederes. Es ist der erste Spielfilm dieser Art.

Sprechende Porträts

So sehr die Dimensionen des Projekts überwältigen, so zärtlich spricht Welchman über den Maler, der ihn und seine Frau so inspiriert hat – und den er stets beim Vornamen nennt: „Die erste Idee war, die Porträts zum Leben zu erwecken, damit diese über Vincent sprechen können.“ Welchman, ein britischer Filmproduzent, der für den animierten Kurzfilm „Peter und der Wolf“ 2008 mit einem Oscar ausgezeichnet wurde, und Kobiela, eine polnische (Animations-)Künstlerin, die schon als Jugendliche von van Goghs Briefen fasziniert war und über die Verbindung von psychischen Erkrankungen und Kreativität geforscht hatte, recherchierten also, wer die Menschen auf van Goghs Bildern waren: der Postbote Roulin, dessen ganze Familie van Gogh porträtierte, die Wirtstochter Adeline Ravoux oder der Arzt Dr. Gachet, der van Gogh in dessen letzten Wochen behandelte.

Was die Porträtierten überlieferterweise über van Gogh sagten, sagten sie allerdings erst nach seinem Tod. „Niemand hat sie davor über Vincent befragt, er war da ja noch nicht berühmt. Es war also logisch, die Geschichte nach seinem Tod anzusiedeln.“ In 90Minuten erzählt „Loving Vincent“ nun von der Reise des jungen Armand Roulin nach Auvers-sur-Oise, wo van Gogh 1890 nach einem Schuss in den Bauch starb. Rückblickend wird so die tragische Lebensgeschichte des Künstlers erzählt, vor allem aber entspinnt sich aus den widersprüchlichen Aussagen der Menschen, die Armand dort trifft, ein Krimi um van Goghs Todesumstände: War es am Ende gar kein Selbstmord? „Die Recherche war ein investigativer Prozess für uns“, sagt Welchman. „Die Grundregel war: Wir würden im Film nichts behaupten, was den historischen Aufzeichnungen widerspricht.“

Und da sich die Forschung stets weiterentwickelt, mussten auch Welchman und Kobiela flexibel reagieren, um historisch akkurat zu bleiben: Als sich im Lauf der Produktion herausstellte, dass van Gogh sich 1888, nach einem Streit mit Paul Gauguin, wahrscheinlich das ganze Ohr und nicht nur einen Teil davon abgeschnitten hatte, mussten 3000 Frames neu gemalt werden. Es war nicht die einzige Herausforderung. In der Einstiegssequenz etwa schwenkt das Bild vom Himmel der ikonischen „Sternennacht“ hinunter, bis am Boden Dörfer sichtbar werden. Je zwei Wochen dauerte es, eine Sekunde davon zu animieren. Das Problem war, wie schon beim gepunkteten Kleid, die konstante Bewegung: Konnten in anderen Einstellungen die Hintergründe belassen und nur die Figuren im Vordergrund Bild für Bild bewegt werden (durch wiederholtes Abnehmen und Neuauftragen der Farbe), musste hier im Grunde jedes Frame komplett neu gemalt werden. „Das ist wohl die langsamste Form der Animation, die je erfunden wurde“, sagt Welchman lachend.

„Wir haben 125 Künstler bezahlt!“

Ausgezahlt hat es sich wohl. Der Film, wenn auch inhaltlich nicht allzu fesselnd, zieht visuell in seinen Bann; wie sich hier jeder einzelne Pinselstrich, einmal glatter, einmal störrischer, ins Laufbild fügt, ist verblüffend. „Loving Vincent“ hat den Europäischen Filmpreis gewonnen und gilt als aussichtsreicher Kandidat für Golden Globes und Oscars. Was van Gogh wohl dazu sagen würde? „Er wäre wohl erfreut, dass wir 125 Künstler bezahlt haben – nur seinetwegen!“, sagt Welchman.

Es war van Goghs Traum, ein „Atelier des Südens“ zu errichten, in dem Künstler gemeinsam arbeiten könnten. Gauguin war der erste und einzige Maler, der seiner Einladung folge – der Vorfall mit dem Ohr beendete die Zusammenarbeit abrupt. Dass internationale Künstler nun dank seines Erbes zusammenarbeiteten – und bereits gemeinsame Gruppenausstellungen bestritten –, würde van Gogh überaus beglücken, glaubt Welchman: „Genau das, was er wollte, ist passiert.“ Die ungefähr 1000 Leinwände, die dabei entstanden sind, werden nun zum Teil ausgestellt – im Moment etwa im Noordbrabants Museum im niederländischen 's-Hertogenbosch – und auf der Website des Films (lovingvincent.com) verkauft.

Hat er sich selbst erschossen?

Van Goghs Briefe, die im Film eine tragende Rolle spielen, haben auch Welchman inspiriert: „Es ist unglaublich, dass jemand in seinen Zwanzigern so sehr straucheln und so erfolglos sein kann und dennoch die Kraft hat, sich selbst aufzurappeln und etwas ganz Neues zu wagen.“ Erst mit 28 Jahren begann van Gogh zu malen, bis zu seinem Tod mit 37 konnte er nachweislich nur ein einziges Bild verkaufen. Was van Goghs frühes Ende angeht, ist Welchman gespalten: „Der Romantiker in mir würde es begrüßen, dass er sich nicht selbst erschossen hat“, sagt er nach kurzem Nachdenken. Denn: Die Dinge liefen gerade gut für ihn, was hätte er schaffen können, hätte er noch länger gelebt? Die Forschung lässt leider anderes vermuten: „Wahrscheinlich hat er es getan.“

ZUR PERSON

Hugh Welchman studierte Philosophie, Politik und Wirtschaft in Oxford, produzierte Kurzfilme für Monty Python und gewann für seinen Kurzfilm „Peter und der Wolf“ einen Oscar. Er verliebte sich in die polnische Malerin Dorota Kobiela, die schon lang davon träumte, einen Animationsfilm über van Gogh zu malen. „Loving Vincent“, ursprünglich als Kurzfilm konzipiert, wuchs zu einem abendfüllenden Spielfilm an; Welchman und Kobiela, mittlerweile verheiratet, schrieben das Drehbuch und führten Regie.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.12.2017)

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