Wie sich Sebastian Kurz die EU vorstellt

Bundeskanzler Kurz bei seiner Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz
Bundeskanzler Kurz bei seiner Rede auf der Münchner SicherheitskonferenzReuters (Michaela Rehle)
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Bundeskanzler Kurz skizzierte auf der Münchner Sicherheitskonferenz seine Vision für ein schlankeres Europa: verstärkte polizeiliche und militärische Kooperation, aber ein Ende der Überregulierung.

München. Alles drehte sich um Europa am zweiten Tag der Münchner Sicherheitskonferenz, um den Austritt Großbritanniens, um die Beziehungen zur Türkei, Russland und den USA. Es ging Schlag auf Schlag. Nach Deutschlands Außenminister Sigmar Gabriel erklomm die britische Premierministerin Theresa May das Podium, um sich und dem Auditorium zu erklären, wie sie sich die Sicherheitszusammenarbeit mit der EU nach dem Brexit vorstellen. Dann ergriff EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker das Wort, unmittelbar vor dem polnischen Premier Mateusz Morawiecki, dessen Regierung sich mit fragwürdigen Justizgesetzen das erste Grundrechtsverfahren nach Artikel 7 in der Geschichte der EU eingehandelt hat. Als Fünfter, noch vor dem französischen Ministerpräsidenten Edouard Philippe, trat der jüngste Regierungschef der Runde ans Rednerpult: Sebastian Kurz. Österreichs Bundeskanzler stellte seine Vision von Europa vor.

Ernüchternde Diagnose zum Zustand der Welt

Er startete mit einer ernüchternden Diagnose zum Zustand der Welt. Europa sei von Konfliktherden umgeben, die Ukraine komme nicht zur Ruhe, aus dem Arabischen Frühling sei ein Winter geworden, und in Afrika baue sich ein Migrationsdruck auf, den der alte Kontinent noch sehr intensiv zu spüren bekommen werde. Gleichzeitig verschöben sich die Machtzentren. Das wirtschaftlich wiedererstarkte Amerika ziehe sich von der Weltbühne zurück, ins Vakuum dringe China vor. Und Europa, so Sebastian Kurz, spiele eine immer kleinere Rolle. Die EU habe ein paar falsche Abzweigungen erwischt und sich in lähmende interne Familienstreitereien zwischen Nord und Süd, zwischen Ost und West verwickelt. Für kleine Staaten wie Österreich hatte er eine tröstliche autosuggestive Botschaft parat. Das neue Motto lautet nicht: Die großen Fische fressen die Kleinen, sondern die Schnellen fressen die Langsamen.

Was also sollte Europa in dieser Konstellation tun? Sebastian Kurz empfiehlt, dass sich die EU auf das Wesentliche konzentrieren, sich jedoch vom Klein-klein verabschieden sollte. „Wir versuchen mit enormem Aufwand, in den kleinen Dingen alles gleich zu schalten, während wir in den fundamentalen großen Fragen keine gemeinsame Linie mehr finden.“

Mehrere Gedanken zur EU

In seinem Redetext, den er allerdings nicht zur Gänze vortrug, ventilierte Österreichs Kanzler einige Gedanken für eine Reform der EU. Und es wäre nicht Sebastian Kurz, wenn sein erster Gedanke nicht seinem Leibthema gegolten hätte: Er fordert einen schlagkräftigen gemeinsamen Schutz der EU-Außengrenze, nur so könnten die Binnengrenzen wieder abgebaut werden. Zweitens tritt Kurz, und das ist für den Kanzler eines neutralen Staates außergewöhnlich, für eine Vertiefung der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik ein: „Wenn wir langfristig den Frieden in und um Europa sichern und ein ernstgenommener Partner auf der internationalen Ebene sein wollen, dann muss eine verstärkte militärische und polizeiliche Kooperation ganz klar unser gemeinsames Ziel sein.“ Die Neutralität dürfe Österreich nicht daran hindern, in dieser großen gemeinsamen europäischen Frage eine Linie zu finden.

Nur noch halb so viele Kommissare

Drittens will Kurz der EU eine Diät verordnen. Europa müsse schlanker werden. Den Ausstieg der britischen Nettozahler möchte Kurz zum Anlass nehmen, um Strukturen der EU zukunftsfit zu machen. Nach dem Brexit solle das EU-Parlament mit weniger Abgeordneten auskommen. Auch die Kommission kann sich Kurz mit der Hälfte der jetzigen 28 Kommissare vorstellen.

Viertens schwebt ihm eine groß angelegte Deregulierungs-Offensive. Denn es habe sich in der EU eine massive Bürokratie- und Regulierungsmaschinerie entwickelt. „Wir brauchen keine Regeln für die richtige Farbe der Pommes Frites, die Zutaten auf der Speisekarte oder das Olivenölkännchen am Mittagstisch.“

Für ein jüdisch-christlichs Europa

Fünftens drängt Kurz darauf, die Chancen der Digitalisierung zu nutzen. Europa habe in den vergangenen 20 Jahren vieles verschlafen. Die größten Internet-Konzerne kämen fast alle aus den USA oder China, aber nicht aus Europa. Die Europäer müssten sicherheitshalber ihr Bildungssystem überdenken und eine neue unternehmerische Gründerkultur etablieren.

Sechstens plädiert Kurz für den Ausbau erneuerbarer Energien, um nicht von Importen abhängig zu sein und die Umwelt zu schützen. Und siebtens ruft er auf, „endlich entschlossen unser christlich- jüdisches und durch die Aufklärung geprägtes Europa zu verteidigen.“ Gelegenheit, seine Vorstellung voranzutreiben, wird Sebastian Kurz spätestens in der zweiten Jahreshälfte haben. Dann übernimmt Österreich den Ratsvorsitz in der EU.

Der Verweis auf Europas christlich-jüdische Werte sorgte kurz für Unruhe auf der Konferenz, Charles Grant, Direktor des Centre for European Reform, fragte, ob dies der Integration von Muslimen förderlich sei. Darauf angesprochen, Frankreichs Premier Edouard Philippe auf die laizistische Ausprägung seines Staates, fügte jedoch hinzu: „Wir kennen unsere Geschichte.“

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