Der mächtigste Mann von Brüssel

Martin Selmayr in Brüssel
Martin Selmayr in BrüsselAPA/AFP (JOHN THYS)
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Martin Selmayrs überraschende Bestellung zum Generalsekretär der EU-Kommission krönt die steile Laufbahn eines Vollblutjuristen, der zuletzt jedoch einige Rückschläge einstecken musste.

Macchiavelli, Rasputin, graue Eminenz, Fürst der Finsternis: in der Etikettierung Martin Selmayrs greifen manche Journalisten in die Wühlkiste matter Klischees. Nüchtern betrachtet ist die Bestellung des 47-jährigen bisherigen Kabinettschefs von Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker zum Generalsekretär der Brüsseler Behörde mit ihren rund 33.000 Beamten und Vertragsbediensteten ein anschauliches Beispiel dafür, wie man sich im Maschinenwerk der EU mit Beharrlichkeit, Fleiß und Härte nach oben arbeiten kann.

Selmayr kam nach seinem Jusstudium an der Universität Passau für den Medienkonzern Bertelsmann nach Brüssel, lernte den CDU-Abgeordneten Elmar Brok kennen, der damals eine Schlüsselrolle im Konvent spielte, welcher eine EU-Verfassung schaffen sollte (dieses Unterfangen wurde 2005 durch die beiden Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden beerdigt). Schnell gewann der junge deutsche Jurist die Aufmerksamkeit der luxemburgischen Kommissarin Viviane Reding, sie überredete ihn, bei ihr anzuheuern. 2004 wurde er ihr Pressesprecher, 2009 ihr Kabinettschef. Als klar wurde, dass Reding bei den Europawahlen 2014 trotz recht offen gehegter Hoffnungen nicht Spitzenkandidatin der Europäischen Volkspartei für den Kommissionsvorsitz wird, sondern ihr Landsmann Jean-Claude Juncker, wechselte Selmayr mit fliegenden Fahnen in dessen Lager. Er leitete Junckers Wahlkampf und wurde sein Kabinettschef.

Schnell zeigte sich das Talent Selmayrs, sich in der - wie jede große Organisation - von Intrigen und Klüngeln durchzogenen Kommission eine große Machtposition zu verschaffen. Das präsidiale System der Kommission Juncker konzentriert die Entscheidungskompetenz im Büro des Präsidenten; die einzelnen Kommissare sind, anders als früher, an der ganz kurzen Leine. Diese Straffung geht auf Selmayr zurück, sie hat zweifellos dazu geführt, dass die Kommission nicht unzählige Vorhaben lanciert, aus denen letztlich nichts wird, wie es unter Junckers Vorgänger José Manuel Barroso der Fall gewesen war.

"Die Kommission ist keine Montessori-Schule"

Der Preis für diese Effizienzsteigerung ist jedoch manch' böses Blut und der Verlust politischer Kompetenz: die bulgarische Budgetkommissarin Kristalina Georgiewa, fähig und beliebt, verabschiedete sich entnervt zur Weltbank, nachdem Selmayr sie sowohl in Haushalts- als auch Brexit-Fragen mehrfach übergangen hatte.

"Die Kommission ist keine Montessori-Schule", erklärte Selmayr seine Härte gegenüber Jean Quatremer, dem gut vernetzten Korrespondenten der französischen Tageszeitung "Libération". Im persönlichen Umgang ist er meist charmant, ein Mann geschliffener Umgangsformen; wenn er dem "Presse"-Korrespondenten sagt, er habe diese Zeitung als Student in Passau mit großem Eifer gelesen, kann man ihm das glauben, oder auch nicht. Bisweilen jedoch gehen ihm die Emotionen auf eine Weise durch, die nicht sehr professionell ist - etwa, als er den Korrespondenten des "Spiegel" auf einem Sommerempfang des Deutschen Bankenverbandes coram publico wüst beschimpfte und ihm Prügel in Aussicht stellte.

Selmayr hielt schon als Junckers Kabinettschef enorme institutionelle und damit politische Macht in Händen. Dass nicht der niederländische Vizepräsident Frans Timmermans (ein Sozialist), sondern der frühere französische Kommissar und Außenminister Michel Barnier (so wie Juncker ein EVP-Mann) die Verhandlungen über den Brexit führt, ist ihm zu verdanken. Manch einer will dahinter eine langfristige Strategie Selmayrs sehen, auch nach Junckers Abgang Ende 2019 an den Schalthebeln des Einflusses zu bleiben, als Kabinettschef eines Kommissionspräsidenten Barnier.

Das hat er nach seiner ruckartig vollzogenen Bestellung zum Generalsekretär nun nicht mehr nötig. In dieser Rolle wird er weitaus mehr Einfluss haben. Doch wie erfolgreich er in der Umsetzung seiner politischen Vorstellungen für Europa ist, bleibt vorerst offen. Zuletzt musste er bei einigen Herzensanliegen Rückschläge einstecken.

Ein europäischer Föderalist

Als Juncker im September in seiner Rede zur Lage der Union einige institutionelle Änderungen für die EU vorschlug, war klar, wessen Handschrift sie trugen: jene Selmayrs. Doch kaum eine davon hat Aussicht auf Umsetzung. Weder wollen die Staats- und Regierungschefs eine Zusammenlegung der Posten der Präsidenten des Europäischen Rates und der Kommission zu einem "Superpräsidenten". Man halte das, entgegen den juristischen Vorstellungen in der Kommission, für vertragswidrig, sagte ein hoher Ratsfunktionär am Mittwoch. Auch die Idee, eine im EU-Vertrag vorgesehene "Brückenklausel" zu verwenden, um in steuer- und außenpolitischen Fragen in der EU nicht mehr einstimmig, sondern mit bloßer Mehrheit Dinge zu beschließen, findet bei den Mitgliedstaaten keinen Anklang. Und auch die Forderung nach einer eigenen Finanzierungsquelle der Union - zum Beispiel über eine EU-Gebühr auf Treibhausgasemissionen - kostet die Finanzminister derzeit nicht einmal ein Lächeln.

Und so zeichnet sich ein paradoxes Bild Selmayrs: ein machtbewusster Mann, dessen Einfluss fürs Erste an den Pforten des Justus-Lipsius-und des Europa-Gebäudes, wo der Rat residiert, zu enden scheint. Und ein Deutscher, der vor allem von französischen Beobachtern beargwöhnt wird, obwohl er - soferne man es aus seiner bisherigen Laufbahn schließen darf - etwas ist, das in Paris wesentlich mehr Anklang findet als in Berlin: ein europäischer Föderalist.

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