Die Zeitbombe Gazastreifen

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PALESTINIAN-ISRAEL-CONFLICT-LAND DAY(c) APA/AFP/HAZEM BADER
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Die Massendemos an der Grenze Gaza–Israel, wo am Freitag mindestens 16 Palästinenser getötet worden sind, ebbten am Samstag ab. Die Lage in dem verarmten Gebiet könnte aber bald komplett explodieren.

Die schweren Zusammenstöße zwischen Zehntausenden Palästinensern und israelischen Truppen an der Grenze zwischen Israel und dem Gazastreifen am Freitag, bei denen mindestens 16 Palästinenser erschossen und mehr als 1400 verletzt worden waren (die meisten durch Tränengas), haben weltweite Bestürzung hervorgerufen.

Die UNO in New York forderte am Samstag eine unabhängige Untersuchung. UN-Generalsekretär António Guterres rief zur Unterlassung weiterer Handlungen auf, die zu Opfern führen könnten – das richtete sich in erster Linie wohl an die Palästinenser, die an mehreren Stellen versucht hatten, die Grenzlinie zu durchbrechen. Tatsächlich hatten fast alle der Erschossenen – junge Männer zwischen 16 und 30 Jahren – zuvor versucht, Zäune zu beschädigen oder zu überklettern. Israel aber hatte im Vorfeld klar verkündet, man werde in diesem Fall schießen, und dass dafür mehr als 100 Scharfschützen zusätzlich positioniert würden.


Missbrauch des Demonstrationsrechts.Die deutsche Regierung rief zur Besonnenheit auf. Die Ausübung des Rechts auf Meinungsäußerung und friedlichen Protest dürfe nicht missbraucht werden, legitime Sicherheitsinteressen Israels zu verletzen. Die Verteidigung dieser legitimen Interessen müsse aber „verhältnismäßig“ erfolgen.

Am Samstag gab es neue, weit kleinere Zusammenrottungen im Grenzraum. Soldaten schossen auf Gruppen junger Leute, die Reifen angezündet und auf die Grenze zugerollt hatten. Drei Burschen sollen verletzt worden sein, hieß es seitens der Hamas-Führung in Gaza, wo der Samstag zum Tag der Trauer erklärt worden war.

Israels Armee, die zwei Infanteriebrigaden plus Polizei- und Unterstützungseinheiten an der rund 60 Kilometer langen Grenze stationiert hat, deutete an, dass man, sollte die Gewalt anhalten, wohl innerhalb des Gazastreifens vorgehen müsse.

Der Hamas sind Tote recht. Laut Hamas haben die Demonstrationen, die bis 14. Mai, dem Tag der Gründung Israels 1948, dauern sollen, den Zweck, für das Rückkehrrecht für die Hunderttausenden damals vertrieben Palästinenser zu kämpfen – und für das ihrer Nachkommen, die auf mehrere Millionen geschätzt werden. Israel lehnt beides ab, da es zum Kollaps des Staates führen würde.

Beobachter haben kritisiert, dass der anfangs von der Hamas angekündigte „friedliche und parteienübergreifende“ Protest mit „humanitären Botschaften, mit der Forderung auf ein Ende der Besatzung, ein Leben in Frieden und Sicherheit“ so eskalierte – was die Israelis geahnt hatten. Die Hamas beließ es bei Appellen, die Leute sollten der Grenze nicht zu nahe kommen, tat aber mit ihrem Personal sichtlich nichts, wenn exakt das geschah. Stattdessen nahm sie zivile Opfer in Kauf und wird das propagandistisch ausnützen. Der „feige Missbrauch der Palästinenser im Gazastreifen gehört zur ihren Methoden“, heißt es.


Lieber sterben als vegetieren. Israels Warnungen waren tatsächlich unmissverständlich gewesen: Wer sich der Grenze nähert, riskiert den Tod. Der angekündigte Einsatz von Scharfschützen unterstrich das. Die Angst, dass Massen die Grenze durchbrechen und mit ihnen Terroristen nach Israel kommen könnten, löste letztlich den extremen Gewalteinsatz der Israelis aus.

Nur ist das Problem nicht gelöst: Zahllose Palästinenser zeigten Bereitschaft, zu sterben, als sie in die erklärte „Todeszone“ vordrangen. Ihr Leben scheint für sie nicht länger lebenswert. Ihre Hoffnung auf ein Zusammengehen der Hamas und der im Westjordanland regierenden Fatah, auf Öffnung der Grenze nach Ägypten, wirtschaftlichen Aufschwung und Jobs ist mit dem Scheitern des innerpalästinensischen Friedensprozesses passé. Stattdessen zeichnet sich noch mehr Not ab, gerade im isolierten Gazastreifen, wo rund 1,9 Millionen Menschen (genau weiß man es nicht) auf rund 88 Prozent der Fläche Wiens leben, nein, hausen müssen.

Ihr Zorn richtet sich dennoch primär gegen die Israelis, die sich auf dem Land der lokalen Araber mit Macht niedergelassen hatten, während sie selbst in Flüchtlingslagern ausharren. So ist Gaza mit seiner Perspektivlosigkeit und Mangel an Bewegungsfreiheit eine Brutstätte für Dschihadisten, die nicht nur für die palästinensischen Führer und Israel, sondern auch für Ägypten, andere arabische Länder und Europa ein Riesenproblem werden könnten.

Gazastreifen:

Gaza-Stadt und mehrere weitere Orte liegen in dem Gebiet von rund 40km Länge und sechs bis 14km Breite. Hier verlief seit der Antike eine Handelsroute. Den Namen Gazastreifen und seine Form erhielt das Gebiet nach dem Arabisch-Israelischen Krieg 1948/49. Es wird seit 2007 von der Hamas regiert und spätestens seitdem von Israel und Ägypten isoliert.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.04.2018)

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