Als Schieles Schwägerin ihre Aktfotos zerriss

Selbstporträt des jungen Schiele als Dandy mit langem Haar (1907, aus Privatbesitz in Tulln).
Selbstporträt des jungen Schiele als Dandy mit langem Haar (1907, aus Privatbesitz in Tulln).Privat
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Eine junge Frau aus Texas sicherte einst die Oral History über Egon Schiele: Heute stehen diese historischen Interviews, die Alessandra Comini u. a. mit Schieles Schwestern führte, im Zentrum des neu aufgestellten Schiele-Museums in Tulln.

Mit 21 kam Alessandra Comini das erste Mal nach Wien, sie wollte Kunstgeschichte studieren. Was damit endete, dass sie 1956 mit einem Pick-up zwischen der ungarischen Grenze und Wien pendelte, um Flüchtlingen des Volksaufstands weiterzuhelfen. Egon Schiele? Hatte sie damals noch nie gehört, genauso wie die meisten Wiener, erinnert sich Comini heute. Viele Schiele-Sammler wurden von den Nazis ermordet oder konnten flüchten, etwa nach Kalifornien. Wo sie dann etwa der Universität Berkeley Leihgaben für eine kleine Campusausstellung zum Wiener Expressionismus zur Verfügung stellten. Eine „Offenbarung“ für Comini, die eigentlich auf das Mittelalter spezialisiert war.

Als sie ahnungslos das Museum betrat und vor ihren ersten Schiele-Zeichnungen stand, „blieb ihr der Mund offen stehen“. Hier stellte sich jemand dieselben Fragen über das Leben wie sie!, erinnert sie sich. Sie spürte sofort ein starkes Band zu Schiele.

Und schon ging es wieder zurück nach Wien. Die Entdeckungen, die Comini in diesem Sommer 1963 machen konnte, verwundern bis heute und begründeten in der heiß umkämpften Schiele-Forschung etwas, was man heute Oral History nennt, also Gespräche mit Zeitzeugen und das Aufsuchen originaler Schauplätze. So war Comini die Erste, die jene legendäre Gefängniszelle in Neulengbach fand, in der Schiele 1912 24 Tage lang in Untersuchungshaft saß und die berühmte Gefängnis-Serie zeichnete.

Exklusive Tonbandaufzeichnungen

Die Geschichte, wie Comini einst in diese Zelle gelangt ist, ist großartig, sie erzählt sie immer wieder gern, auch diesmal, im Dachgeschoß des Tullner Schiele-Museums sitzend, das im 100. Todesjahr Schieles von Kurator Christian Bauer neu aufgestellt wurde – nämlich rund um die von Comini exklusiv zur Verfügung gestellten Tonbandaufzeichnungen unter anderem von Gesprächen mit Schieles Schwestern und seiner Schwägerin.

Anhand sechs animierter Videostationen folgt man Cominis Erkundung Schieles als Mensch. Denn Egon, die Privatperson, soll hier in seiner Geburtsstadt im Vordergrund stehen. Dadurch möchte man sich, so Bauer, von anderen Museen absetzen. So hört man das alte Wienerisch von Melanie und Gerti Schiele und ihrem Sohn Anton Peschka sowie von Schwägerin Adele Harms. Man sieht sie als Schattenfiguren gestikulieren, und das taten sie alle wie wild, erinnert Comini sich.

Das Texas-Girl Comini muss den Schiele-Schwestern recht exotisch vorgekommen sein. Ursprünglich hatten die Wiener Schiele-Experten ihr auch dringend abgeraten, die Schwestern aufzusuchen, sie seien unfreundlich, wollten mit niemandem reden, fühlten sich nahezu verfolgt. Bis sie Cominis briefliche Anfrage erhielten, unabsichtlich sogar mit „hochverachtungsvoll“ unterzeichnet. Die Schwestern verstanden sich nicht gut – Gerti, die jüngere, war die Komplizin des Bruders, was wohl auch eine erotische Komponente hatte. Das will Comini den koketten Andeutungen Gertis entnehmen.

Melanie war die ernsthafte, ging auf Distanz zu den tollenden Geschwistern, fühlte sich von ihnen gar als „lesbisch“ verleumdet, wie sie Comini erzählte. Was wiederum einen gerade im Leopold-Museum ausgestellten, bisher unpublizierten Brief von Schieles Schwägerin Adele an Egon und seine Frau, Edith, in dem genau das behauptet wird, in ein anderes Licht rückt.

Erst Sex, dann die Zeichnung

Immer mit Blick auf dieses belastete Verhältnis mit der älteren Schwester müssen auch Aussagen von ihr gelesen werden wie die, dass „Schiele seinen Penis wie ein Werkzeug benutzte“, so Melanie zu Comini. Mit den Modellen, die er von der Straße holte, habe er erst Sex gehabt, dann erst sie gezeichnet, so sei die Pose eine entspanntere gewesen, berichtet Comini von dem Gespräch.

Von seiner Frau, Edith, ist bekannt, dass sie sich nicht gern nackt zeichnen ließ. Seine Schwägerin Adele tat es zumindest am Beginn, als er ihr noch parallel zu ihrer Schwester den Hof machte: Als Comini Adele aufsuchte, war sie Haushälterin in Wien, wischte die Böden. Und zeigte ihr die Nacktfotos, die Schiele von ihr schoß. Vor Cominis Augen zerriss Adele diese, ihre Geschichte sei somit erzählt, meinte sie. 1967 starb Adele in elenden Umständen. Eine mysteriöse Geschichte, meint Bauer, hatte sie doch noch Schiele-Zeichnungen besessen. Jedenfalls sei sie die Einzige aus dem engeren Umkreis gewesen, die nicht von Schieles Erbe profitieren konnte, meint Bauer. Adele schrieb Comini noch aus dem Armenhaus – hier werde sie nun „auf ewig“ bleiben.

Adele, ein dramatischer Charakter

Adele sei ein dramatischer Charakter gewesen, sagt Comini. Dramatisch, ja existenziell sind auch die Briefe, Gedichte, Zeichnungen, die Schiele während seines kurzen Gefängnisaufenthalts geschaffen hat. Die Bilder, in denen er detailliert seine Umgebung festhält, sind Ikonen der Wiener Kunstgeschichte.

Es ist schwer zu glauben, dass eine Frau aus Texas kommen musste, damit diese in Schieles Biografie fast sakralisierte Zelle der Läuterung erstmals dokumentiert wurde: 1963 jedenfalls nahm Comini sich ein Mietauto und fuhr los: erst nach Klosterneuburg, wo sie das Schulzimmer Schieles fand und auch, darüber wundert sie sich heute noch, seine Zeugnisse einsehen konnte. Dann fuhr sie nach Tulln, wo sie einfach an der ehemaligen Bahnvorsteherswohnung läutete, in der Schiele aufgewachsen war. Eine „mütterliche Frau“ öffnete und ließ sie durch die Zimmer streifen, von denen sie den Blick auf die Schienen entdeckte, den Schiele als Kind festgehalten hatte. Sie war die Erste, heute ist hier ein kleines Museum zu finden.

Im Rückwärtsgang ins Gefängnis

Im Neulengbacher Gefängnis fuhr Comini mit einem Empfehlungsschreiben von Albertina-Direktor Walter Koschatzky vor. Das sich beim zuständigen Beamten als wenig hilfreich herausstellte: Er verweigerte ihr den Eintritt. Worauf Comini sich hinter einem Baum versteckte, um die Lage zu sondieren: Als die Angestellten zu Mittag aus dem Gebäude strömten, tat sie, was sie in New York gelernt hatte, um gratis ins Kino zu gelangen – sie mischte sich in den Strom der Menge und ging langsam rückwärts. Bis sie dort war, wo die anderen herkamen.

Mit der Kamera um den Hals lief sie in den Keller hinunter. Und stand plötzlich in dem Gang vor den Zellen, den sie von Schieles Zeichnungen kannte, sogar Besen und Kübel standen an derselben Stelle. Auch die Zelle konnte sie anhand eingeritzter Initialen in der Tür erkennen. „Das war der aufregendste Moment in meinem Leben“, ist Comini sich bewusst. In dieser Aufregung schnappte sie sich den Klingelknopf aus der Zelle als Souvenir. Heute ist er wieder dort, wo er hingehört, mittlerweile ist auch hier eine Gedenkstätte eingerichtet. Die Spannung scheint aus Cominis Leben nie verschwunden zu sein – nach einer erfolgreichen Karriere als feministische Kunsthistorikerin an der Southern Methodist University schreibt sie seit 2014 Kunstkrimis.

„Egon Schiele privat“ ist bis 4. 11. im Schiele-Museum Tulln zu sehen. Von Di bis So, 10–17 Uhr.

Zur Person

Alessandra Comini (* 1934 in Minnesota) ist eine der renommiertesten Schiele-Expertinnen. 1963 führte sie Interviews mit Schieles Familie und dokumentierte als Erste wesentliche Orte seiner Biografie.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.04.2018)

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