Leitartikel

Warum Erdoğan die Flucht nach vorn antritt

Es gibt für Erdoğan gute Gründe dafür, warum er es mit den Wahlen eilig hat.
Es gibt für Erdoğan gute Gründe dafür, warum er es mit den Wahlen eilig hat.(c) APA/AFP/OZAN KOSE (OZAN KOSE)
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Der türkische Präsident lässt wählen, solange noch nationale Begeisterung den Ärger über hohe Preise überlagert. Die Probleme der Türkei löst er so nicht.

Für den türkischen Präsidenten läuft alles ab wie nach seinem Drehbuch. Erst hat sich Recep Tayyip Erdoğan vor einem Jahr mit einem Referendum eine neue Verfassung absegnen lassen, die ihm als Staatsoberhaupt eine weitreichende Machtfülle verleiht. Jetzt setzt er den nächsten Schritt: Offiziell in Kraft tritt das neue System nach den nächsten Parlaments- und Präsidentenwahlen. Sie standen erst 2019 an. Doch die türkische Führung erhöht nun das Tempo und verlegt die Wahlen auf 24. Juni vor. Erdoğans Partei, die AKP, zieht dabei mit der nationalistischen MHP an einem Strang. Die anderen Oppositionsparteien wurden mit dem frühen Termin auf dem falschen Fuß erwischt. Sie haben jetzt nur wenige Wochen Zeit, um sich vorzubereiten.

Es gibt für Erdoğan gute Gründe dafür, warum er es eilig hat. Zwar ist er das unumstrittene Schwergewicht in der innenpolitischen Arena, seine Anhänger halten weiter zu ihm. Aber unter der Oberfläche schlummern gravierende Probleme. Die Infrastrukturprojekte der Regierung haben Arbeitsplätze geschaffen und in den vergangenen Jahren die Lebenssituation in vielen ländlichen Gebieten verbessert. Die Wirtschaft weist gute Wachstumsraten auf. Doch zugleich stürzt die Währung immer mehr ab. Die Inflation steigt. Die türkische Führung gibt „ausländischen Mächten“ die Schuld daran, doch die Schwierigkeiten sind hausgemacht.

Erdoğan und seine Berater wissen, dass sich die Lage weiter verschlechtern könnte, und zwar so, dass immer mehr türkische Bürger die Auswirkungen zu spüren bekommen. Die Türken leiden schon jetzt unter den hohen Preisen. Also lautet die Strategie: Flucht nach vorn. Wählen lassen, so rasch als möglich.

Wie groß die Skepsis in der türkischen Bevölkerung gegenüber Erdoğans ausuferenden Machtansprüchen ist, hat das Verfassungsreferendum vor einem Jahr gezeigt. Zwar stimmten etwas mehr als 51 Prozent für den Vorschlag der Regierung. Mehr als 48 Prozent – also ebenfalls fast die Hälfte der Wähler – waren dagegen. Und das, obwohl das weitgehend gleichgeschaltete Fernsehen und auch die meisten anderen großen türkischen Medien Erdoğans Pläne unterstützten. Und obwohl wichtige Oppositionspolitiker und Gegner der Verfassungsänderung im Gefängnis saßen.

Der türkischen Führung ist klar, dass sie genau jetzt die Gunst der Stunde nützen muss. Denn noch werden die Skepsis gegenüber Erdoğans Machthunger sowie der Ärger über Währungsverfall und hohe Preise offenbar von einem anderen Gefühl überlagert: dem der nationalen Begeisterung.

Erdoğan reitet auf einer nationalistischen Welle, die er mit dem propagandistisch ausgeschlachteten Einmarsch in Nordsyrien hat aufwogen lassen. Türkische Truppen haben mit verbündeten syrischen Rebellen das vor allem von Kurden besiedelte Afrin erobert. Das Gebiet im Nordwesten Syriens ist von den YPG-Volksverteidigungseinheiten kontrolliert worden. Sie sind eine Schwesterorganisation der kurdischen Untergrundbewegung PKK, zugleich aber ein wichtiger Verbündeter des Westens gegen die Jihadisten des sogenannten Islamischen Staates.

Erdoğan hat den Feldzug gegen die kurdischen Kämpfer in Syrien an der Heimatfront als überlebenswichtigen „Krieg gegen den Terror“ verkauft. Und zugleich hat er damit auf die Rolle der Türkei als Regionalmacht gepocht. Als eine Kraft, die ihre Einflusszone absteckt und dabei – zumindest verbal – sogar den USA und den Europäern entgegentritt. Das ist auch in Teilen der Opposition gut angekommen.


Die Chancen für Erdoğan stehen gut, dass er bei den Wahlen im Juni seine Macht zementieren kann. Dann wird der Weg endgültig frei in das Präsidialsystem, von dem er träumt. Die Probleme der Türkei wird er damit aber nicht lösen. Je autoritärer Erdoğan das Land regiert, desto mehr droht auch das Vertrauen internationaler Anleger in die Türkei zu schwinden. Und mit militärischen Abenteuern in Syrien ist das Kurden-Problem in der Türkei nicht zu lösen. Dazu wäre ein neuer Anlauf zu einem Friedensprozess nötig. Doch da hat Erdoğan offenbar andere Pläne.

E-Mails an:wieland.schneider@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.04.2018)

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