Deutschland: „Ich würde gern aus diesem Trott wieder rauskommen“ – Hartz IV, wie es wirklich ist

(c) Reuters
  • Drucken

DEUTSCHLAND. Angestoßen von Vizekanzler Westerwelle, wird heftig über „Sozialschmarotzer“ diskutiert. Das System ist besser als sein Ruf.

Man braucht von der S-Bahn-Station nur dem stetigen Menschenstrom zu folgen, um zum „Job Center Berlin Mitte“ in Wedding zu gelangen. Jeden Vormittag gehen hier hunderte Hartz-IV-Empfänger ein und aus, um diverse Fristen einzuhalten, Schriftstücke vorzulegen oder Jobangebote entgegenzunehmen. Sandra Stolzenburg ist eine von ihnen: „Zum Monatsende wird es immer ganz eng. Ich habe mir jetzt notgedrungen 50 Euro von meinem Schwager geborgt.“ Ihre vierköpfige Familie „spart, wo's geht“, an Lebensmitteln und Kleidung: „Wir Erwachsenen stecken zurück, die Leidtragenden sind die Kinder.“ Neun und zwölf Jahre alt, haben die beiden gerade drei Kleidergrößen übersprungen, ein Darlehen für Neuanschaffungen wurde vom Amt jedoch nicht bewilligt.

„Anstrengungsloser Wohlstand“?

359 Euro beträgt der Regelsatz für erwachsene Hartz-IV-Empfänger, für Kinder prozentuell weniger, plus Miete und Strom/Gas-Zuschuss. Ein Paar mit zwei Kindern in einer sogenannten „Hartz-IV-Bedarfsgemeinschaft“ kommt auf ein Monatsbudget von 1810 Euro (inklusive Wohnkosten und Kindergeld). Familie Stolzenburg musste auf Weisung des Arbeitsamtes gerade übersiedeln, weil in der früheren Wohnung die Miete erhöht worden war, „aber wir haben beim Umzug überhaupt keine Unterstützung bekommen“. Der Familienvater ist 50, Schulwart und arbeitslos, die Mutter gelernte Tischlerin, findet jedoch mangels Praxis – sie hat sich in den ersten Jahren um die Kinder gekümmert – keinen Job. Nachdem sie bei der Umschulung zur Büroassistentin krankheitshalber eine Woche gefehlt hatte, strich die Arbeitsvermittlung den Ausbildungsplatz. „Ich bemühe mich um Arbeit, habe einen Haufen Rennereien, aber die helfen einem nicht. Stattdessen kriegt man noch eins drüber.“ Dabei würde die Frau gern „aus diesem Trott wieder rauskommen“.

Fünf Jahre nach der Reform ist Hartz IV durchwegs negativ besetzt, eine Chiffre für Angst vor dem Abstieg und Existenznot. FDP-Vizekanzler Guido Westerwelle sieht das anders: Er kritisiert „anstrengungslosen Wohlstand“ der Hartz-IV-Empfänger, warnt vor „spätrömischer Dekadenz“ und hat damit eine heftige Debatte über den Sozialstaat losgetreten. Wobei nicht nur die Opposition, sondern auch der Koalitionspartner Union die pauschale Diffamierung der Arbeitslosen als Sozialschmarotzer entschieden zurückweist.

Abbau der Arbeitslosigkeit

Nach Einschätzung von Beobachtern hat Westerwelles Vorstoß vor allem mit den schlechten Umfragewerten der FDP und den bevorstehenden Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen zu tun, wo die Liberalen aus der schwarz-gelben Regierung abgewählt zu werden befürchten müssen.

Geht es den Beziehern von Hartz IV tatsächlich zu gut, oder weist – ganz im Gegenteil – die Regelung starke Mängel auf, wie ihre Kritiker seit Jahren behaupten? „Hartz IV ist lang nicht so schlecht wie sein Ruf“, erklärt Karl Brenke vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW). Durch die Zusammenlegung der früheren Arbeitslosenhilfe, die nach dem einjährigen Arbeitslosengeld gewährt wurde und sich am letzten Einkommen orientierte, und der Sozialhilfe für jene, die nie in einer Versicherung waren, „ist die Zweiklassengesellschaft der Leistungsempfänger aufgehoben worden“. Für alle wird die Unterstützung jetzt an der Bedürftigkeit ausgerichtet, was Teilen der erstgenannten Gruppe freilich Einbußen einbrachte. Das hat zu Unmut geführt, ebenso wie der Umstand, dass Vermögen heute stärker angerechnet und die Zumutbarkeit von Arbeit niedriger angesetzt wird.

Laut Brenke ist es zugleich ein viel faireres System, die Regelsätze lägen im internationalen Vergleich im Durchschnitt. Durch die Reform sei es gelungen, die Arbeitslosigkeit deutlich abzubauen – sie ist trotz Finanzkrise heute um ein Viertel niedriger als 2006. Auch zeige die überwiegende Mehrheit der Hartz-IV-Empfänger keine unzureichende Arbeitsmoral. Ein Drittel von ihnen arbeite ohnehin, brauche aber das Geld zur Aufstockung. „Wer arbeitet, hat immer noch mehr als der, der nicht arbeitet.“ Andere wiederum bestreiten dies angesichts der Verdienste im Niedriglohnsektor. Auch die OECD forderte kürzlich von Deutschland stärkere Arbeitsanreize für Hartz-IV-Familien. Etwa Strukturveränderungen bei den Zuverdienstmöglichkeiten, höhere Freigrenzen bei Steuern und Sozialabgaben.

Änderungsbedarf sehen Experten primär bei der Berechnung der Hartz-IV-Sätze, die bisher sehr holzschnittartig erfolgt ist. Ein Kind als 70 Prozent eines Erwachsenen zu betrachten, sei falsch, da müsse man den Bedarf, etwa bei der Bildung, genau ermitteln. Genau in diese Richtung ging auch ein Urteil des Verfassungsgerichts im Vormonat. Die Karlsruher Richter forderten mehr Transparenz bei der Berechnung und räumten der Regierung dafür eine Frist bis Jahresende ein.

Unsachliche Diskussion

„Die Diskussion wird sehr uninformiert geführt“, so Brenke. Westerwelles Aussagen seien „wenig von Sachkenntnis getrübt“. Das sieht auch David Atwi so, der im Job Center Mitte gerade seine Kontoauszüge abgegeben hat, um nachzuweisen, dass er nicht unerlaubt zu Hartz VI dazuverdient. „Herr Westerwelle müsste einmal hier sein. Dann wüsste er, wie es wirklich ist.“ Die Attacken des Vizekanzlers ärgern den 22-jährigen Einzelhandelskaufmann. Er hat seinen Posten bei „Kaiser's“ verloren, weil die Filiale geschlossen wurde. Im Amt entscheidet sich jetzt, ob er bald wieder Arbeit bekommt. Die Abwicklung findet David im Großen und Ganzen „okay. Mir wird bei der Jobsuche geholfen.“ Mit knapp 700 Euro im Monat, alles inklusive, auszukommen, ist „nicht einfach. Ich muss schon sehr sparen, aber es geht immer irgendwie“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.02.2010)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren

Außenpolitik

„Flexibilität und Sicherheit“: Arbeitslosenhilfe auf Dänisch

Für die Betriebe ist „Heuern und Feuern“ billig. Wer den Job verliert, ist dafür gut abgesichert. Mit diesem international viel beachteten Modell versucht Dänemark, Problemen auf dem Arbeitsmarkt beizukommen. Doch in der Krise bekommt das System erste Risse.

Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.