Italienische Kindesweglegung

Matteo Salvini.
Matteo Salvini.(c) REUTERS (TONY GENTILE)
  • Drucken

Brückeneinsturz, Wirtschaftsmisere, Migrationsdruck: Alles Übel möchten Roms Populisten Europa ankreiden, statt vor der eigenen Tür zu kehren.

Kaum hatte sich der Staub über der eingestürzten Morandi-Brücke in Genua gelegt, waren zahlreiche Opfer noch unter den Betontrümmern begraben, da meinte Matteo Salvini bereits, die Toten und Versehrten für seine politischen Zwecke missbrauchen zu müssen. „Wenn es europäische Beschränkungen gibt, die uns daran hindern, Geld für die Sicherheit der Schulen auszugeben, die unsere Kinder besuchen, oder für die Autobahnen, auf denen unsere Arbeiter unterwegs sind, werden wir die Sicherheit der Italiener zur obersten Priorität machen“, schrieb der italienische Vizeministerpräsident vorigen Dienstag auf Twitter.

Die EU ist also schuld daran, dass in Genua eine Brücke zusammengebrochen ist: Das möchte der Rechtschauvinist Salvini die Italiener glauben machen, und bei vielen wird diese simple Botschaft vermutlich verfangen. Denn seit Jahr und Tag bemüht sich Salvinis Lega ebenso wie ihr Koalitionspartner, die populistische Fünf-Sterne-Bewegung, Brüssel und dem Rest Europas einen Schwarzen Peter nach dem anderen zuzuschieben. Italiens Häfen quellen vor Bootsmigranten aus Afrika über? Die Jugend findet keine Arbeitsplätze? Der Süden des Landes dümpelt wirtschaftlich vor sich hin? Daran tragen die „europäischen Beschränkungen“ Schuld, das (auch anderswo gern gescholtene) „Spardiktat“ Brüssels, die politische Macht der knausrigen Nordeuropäer.

All das sind politische Fiktionen. Der Zyniker Salvini weiß, wie fadenscheinig seine Anklage Europas ist. Doch wie jede Fiktion lenken diese Angriffe auf die Union von der harten Realität ab. Vielen Italienern, die über Jahrzehnte hinweg von korrupten und unfähigen Politikern beidseits der weltanschaulichen Wasserscheide regiert wurden, ist es tröstlicher, den Ursprung ihrer Probleme im feindlichen Ausland zu vermuten, statt zu Hause danach zu suchen.

Umso wichtiger ist es daher, einige Tatsachen über Italien und sein Verhältnis zu Europa festzuhalten. Erstens sei daran erinnert, dass Italien eines der Gründungsmitglieder der Union ist. In Rom wurde 1957 der Grundstein gelegt, und schon damals zeigte sich die Handschrift Roms: Auf Italiens Drängen wurde mit dem damaligen Vertrag die Europäische Investitionsbank geschaffen. Gut zwei Jahrzehnte lang, bis zum Beginn der Kohäsionspolitik, war sie die einzige europäische Institution zur Stützung wirtschaftlich schwacher Regionen.

Zweitens gibt es keine „europäischen Beschränkungen“ für den Neubau und die Instandsetzung von Italiens mürber Infrastruktur. Im Gegenteil: 2,5 Mrd. Euro erhält Rom im laufenden EU-Haushaltsrahmen aus Brüssel für diese Zwecke. Der Stabilitätspakt, auf den Salvini anspielt, schreibt keinem Unionsmitglied vor, wofür es seine Staatsausgaben einsetzt. Sehr wohl aber setzt er klare Grenzen für die Neuverschuldung. Das ist Voraussetzung dafür, auf den Finanzmärkten Vertrauen und folglich Mittel für Investitionen einwerben zu können.

Drittens ist die in Südeuropa weitverbreitete Behauptung von der Dominanz der Deutschen und anderer Nordeuropäer in den Institutionen der EU eine Mär. Ein Blick in die aktuellen Personalstatistiken der Kommission legt klar offen, wie sehr die Italiener in Brüssel überrepräsentiert sind. 3889 Kommissionsbeamte sind Italiener. Das sind 12,1 Prozent des gesamten Personals. Doch nur 7,5 Prozent sind Deutsche. Italien stellt zudem, so wie Deutschland und Frankreich, vier Generaldirektoren und in drei Besoldungsstufen die in absoluten Zahlen meisten Kommissionsmitarbeiter. Daraus zieht es politischen Nutzen: Die gegenüber spanischen Vergleichsfällen recht sanfte Sanierungskur für die marode Banca Monte dei Paschi di Siena wurde fast ausschließlich von italienischen Kommissionsbeamten ausgetüftelt.

Insofern betreibt die römische Regierung politische Kindesweglegung, wenn sie die EU zum Sündenbock macht. Hilfreicher wäre es zu hinterfragen, wieso nur der Norden Italiens aus dem Binnenmarkt und der Währungsstabilität Vorteile gezogen hat. Der Mailänder Salvini sollte darauf eigentlich schlüssige Antworten parat haben.

Mails an: oliver.grimm@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.08.2018)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren

taliens Vizepremier und Innenminister, Matteo Salvini.
Österreich

Die europäischen Zankäpfel der italienischen Regierung

Die Konflikte zwischen Rom und der EU-Kommission beschränken sich nicht nur auf den Umgang mit Migranten und die italienische Budgetpolitik – auch der Ausbau der Verkehrs- und Energieinfrastruktur innerhalb der EU könnte unter die Räder geraten.

Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.