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Charles Aznavour ist tot: Ein Sehnsüchtiger mit belegter Stimme

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FILES-FRANCE-MUSIC-PORTRAIT-AZNAVOUR-OBITAPA/AFP/JOEL SAGET
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Der kleine Mann mit den melancholischen Augen schaffte aus bitterer Armut den Aufstieg zum Weltstar. Der wohl größte Chansonnier aller Zeiten starb 94-jährig.

Dunkle Hose, dunkles Hemd, dazu die roten Hosenträger, die er in seinen letzten Jahren so gerne trug. Das Jackett hatte er längst abgelegt. Jetzt sang Charles Aznavour „Emmenez-moi“, sein ewiges Sehnsuchtslied. Der Held steht in staubigen Docks, blickt auf ein- und auslaufende Schiffe. Aznavour illustrierte mit weichen Bewegungen sein unstillbares Fernweh. Der Idee des tätigen Nordens kann er wenig abgewinnen. Den Helden des Liedes zieht es in den Süden, wo „des idées vagabondes“ die Szene beherrschen und die Sonne die Leiden der Menschen erhellt. Seine wachen Augen blitzten, als er die Zeilen „Emmenez-moi au bout de la terre, emmenez-moi au pays des merveilles“ ein letztes Mal in Wien sang. Die Hände waren geballt, aber als er sie zum Refrain in die Luft warf, öffneten sie sich. Entspannung stellte sich ein. Tänzelnd verließ er die Bühne.

Lange war der am 22. Mai 1924 als Schahnur Waghinak Asnawurjan in Paris Geborene das schwarze Schaf des französischen Chansons. Bei den Herren Direktoren der Pariser Varietétheater löste er Zurückhaltung aus. Bruno Coquatrix hat sich lange geweigert, Charles Aznavour die Bühne des Chansontempels Olympia zu überlassen. Das hinderte Aznavour nicht daran, allabendlich in Nachtklubs aufzutreten. Auch für Unterhaltungseinlagen in Kinos stand er stets zur Verfügung. Die unkonventionelle, belegte Stimme, die ihn zunächst vielen als Kassengift erscheinen ließ, wurde sein Markenzeichen. Fachärzte fällten ein vernichtendes Urteil: „Machen Sie sich bloß keine Illusionen. Sie werden nie singen können. Eines Ihrer Stimmbänder schwingt nicht mit.“ Glücklicherweise ist Kunst nicht von medizinischen Befunden abhängig.

Piaf nannte ihn „mein Blödgenie“

Als Sohn einer eingewanderten, bitterarmen armenischen Künstlerfamilie stand Aznavour schon mit elf Jahren auf der Bühne. Mit 22 Jahren kam er in den Kreis von ?dith Piaf. Sie protegierte ihn, nannte ihn „mein kleines Blödgenie“. Etwa zur selben Zeit gründete er mit Pierre Roche das Duo Roche Et Aznavour. Als Pianist Roche drei Jahre später heiratete und auswanderte, trennte man sich. Mühsam kämpfte sich Aznavour jahrelang durch billige Varietés. Sein (vorläufiges) Scheitern interpretierte er als privilegierte Begegnung mit der Wirklichkeit. In seinen selbst komponierten Chansons nahm er gerne die Rolle des Außenseiters an. „Er hat die Verzweiflung volkstümlich gemacht“, urteilte Jean Cocteau. Dieser kleine Mann, der vielleicht 1,60 Meter maß, rettete das französische Chanson aus der Falle der Sentimentalität. Gut, es gab auch Jacques Brel und Léo Ferré. Aber niemand schrieb so viele Chansons wie Aznavour. Um die 800 waren es. 2015 triumphierte er mit dem Album „Encores“, das bis auf ein Lied aus brandneuen Chansons bestand. Es war eine der besten Liedersammlungen seiner Karriere.

Sein kreativste Zeit hatte er in den 60er- und 70er-Jahren, als ihm Klassiker wie „La Bohème“, „Mes Emmerdes“, „Etre“, „Mourir D'Aimer“, „Comme Ils Disent“ und „Idiot Je T'aime“ aus der Feder flossen. Er sang gegen Armut und Dummheit, schwärmte für seine imaginäre Heimat Armenien, für die er auch Botschafter in der Schweiz war.

Vor allem aber war Charles Aznavour das Brot der Armen, die Liebe, ein Anliegen. Besonders berührte „Comme Ils Disent“, das er aus der Sicht eines unglücklichen Transvestiten in einer Zeit komponierte, wo es noch nicht en vogue war, Homosexualität positiv zu bewerten.
Drei Mal verheiratet, offenbarte er seinen diesbezüglichen Geschmack in seiner Autobiografie „Le Temps des avants“: „Ich habe immer die sehr jungen Mädchen gemocht, die androgynen, etwas naiven, etwas verlorenen, die nichts besaßen und denen ich mit großer Leichtigkeit großzügige Geschenke machen und so zu ihrem Pygmalion werden konnte, trotz all meiner Mängel. Mein Traum war es, eine junge Frau bei mir zu empfangen, die nackt unter einem geborgten Regenmantel zu mir käme.“ Die Schwedin Ulla Thorssell dürfte es so gemacht haben. Sie war seit 1967 Frau Aznavour.

Playboyattitüden und rosa Limousinen

Der kleine Mann mit den großen, melancholischen Augen war bald auch im Film gefragt. Sein Debüt gab er mit zwölf in Jacques Daroys „La Guerre des gosses“. Jean Cocteau engagierte ihn für „Le Téstament d'Orphée“, François Truffaut für „Tirez sur le pianiste“. In Volker Schlöndorffs „Die Blechtrommel“ mimte er einen Spielzeugladenbesitzer. In diesen Jahren des großen Zuspruchs verstieg sich der lange Verkannte zu ein wenig Größenwahn, wie er in „Mit leiser Stimme – Mein Leben, ein Chanson“ ganz frei erzählt. Playboyattitüden in St. Tropez, rosarote Limousinen, nicht zu wenig Champagner und auch Zigaretten – alles hat Aznavour ausprobiert.

Bald besann er sich und wurde zum verantwortungsvollen Vater und zu einem sozial und politisch engagierten Künstler. Seine Gefolgschaft war international. Er füllte Säle in Moskau wie in New York. Aznavour, ausgewiesener Jazzliebhaber, nahm noch in seinen letzten Jahren mit Granden wie Jacky Terrasson und Dianne Reeves auf. Je älter er wurde, desto intensiver staunte er über die Zeit. Über sie hat er in Chansons wie „Le Temps“, vor allem aber „Hier Encore“, das als „Yesterday When I Was Young“ zum Welthit wurde, gegrübelt. Jetzt hat die Zeit sich ihm auf unerbittliche Weise gezeigt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.10.2018)

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