Migrationspolitik: Türkei beginnt Integration von Millionen Syrern

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Die türkische Regierung habe erkannt, dass die Kriegsflüchtlinge mehrheitlich auf Dauer bleiben werden, sagen humanitäre Helfer. Das könnte die Forderung nach neuen Hilfszahlungen von der EU nach sich ziehen.

Brüssel. Sieben Jahre nach Ausbruch des syrischen Bürgerkrieges hat die Regierung der Türkei, wo mehr als 3,5 Millionen Kriegsflüchtlinge leben, eine grundlegende Feststellung getroffen: Die Syrer werden auf unbestimmte Zeit im Lande bleiben. Also müssen sie ins Schulwesen und in den Arbeitsmarkt eingegliedert und die verbleibenden Flüchtlingslager fast ausnahmslos geschlossen werden.

Zu dieser Erkenntnis mit weitreichenden politischen Folgen kommt die Leiterin einer humanitären Hilfsorganisation, die mit Mitteln aus dem Budget der Europäischen Union syrische und irakische Flüchtlinge in der Türkei unterstützt. „Die türkische Regierung ist nicht mehr auf humanitäre Hilfe konzentriert, weil sie realisiert hat, dass dauerhafte Lösungen notwendig sind“, sagte Sema Genel Karaosmanoğlu von der Nichtregierungsorganisation Support for Life, die mit der Katastrophenhilfe der Diakonie zusammenarbeitet und am Dienstag auf Einladung des SPÖ-Europaabgeordneten Josef Weidenholzer in Brüssel war. „Die Regierung ist sich dessen ziemlich klar, dass die Syrer dauerhaft in der Türkei bleiben. Es ist jetzt zum Beispiel ihre Priorität, dass alle syrischen Kinder in türkische Schulen gehen.“

400 Flüchtlingskinder pro Tag

Die Eingliederung der syrischen Flüchtlinge in die türkische Gesellschaft ist ein Unterfangen von enormer Größe, wie einige der Zahlen veranschaulichen, die Karaosmanoğlu präsentierte. So würden in der Türkei jeden Tag im Durchschnitt rund 400 Babys syrischer Flüchtlinge geboren. Circa 350.000 solcher Kinder gebe es bereits, einschließlich der geflohenen Minderjährigen lebten auf türkischem Boden heute ungefähr 1,5 Millionen schulpflichtige Syrer. Doch nur jedes dritte dieser Kinder besucht tatsächlich eine Schule, und Karaosmanoğlu wies zudem darauf hin, dass die Ausfallrate unter ihnen wegen Diskriminierung und Gehässigkeiten in den Klassen sehr hoch sei.

600.000 Syrer in Istanbul

Die meisten der Flüchtlinge befänden sich zwar weiterhin im Süden des Landes, nahe der Grenze zu Syrien, doch gebe es mittlerweile in allen 81 Provinzen der Türkei syrische Flüchtlinge. Die meisten, circa 600.000, lebten in Istanbul.

Die Eingliederung in den regulären Arbeitsmarkt erscheint, rein numerisch betrachtet, noch schwieriger als die Einschulung der syrischen Kinder. Laut den Karaosmanoğlu vorliegenden Daten hätten rund 40.000 Syrer eine Arbeitserlaubnis, eine gute Million hingegen arbeite schwarz, zu schlechten Löhnen und oft unter ausbeuterischen Bedingungen.

Diese politischen Entwicklungen in Ankara werden die Beziehung der Türkei zur EU, allen voran in der Frage der Eindämmung der irregulären Migration, beeinflussen. Zweimal drei Milliarden Euro hat die Union der Türkei für die Versorgung der Flüchtlinge im Gegenzug dafür bereitgestellt, so gut wie keine Syrer mehr klandestin ausreisen zu lassen. Die erste Tranche sei per Ende 2017 voll vergeben worden an 72 Projekte, derzeit verhandle man mit Ankara darüber, wie die zweite Tranche verwendet werden soll. „Die Türkei ist eine stolze Nation und hat erwartet, dass die sechs Milliarden Euro als Blankoscheck kommen.

Sie hat nie akzeptiert, dass wir keine Blankoschecks ausstellen, sondern nur auf Projektbasis arbeiten“, sagte ein Vertreter der Europäischen Kommission. „Die Frage ist: Was kommt nach der zweiten Tranche? Unser Standpunkt ist: nichts.“

Am Montag jedenfalls wird der Europäische Rechnungshof seinen Bericht über die Verwendung der ersten Tranche vorlegen. Darin wird er einen wirksameren Einsatz dieser Mittel einfordern.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.11.2018)

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