Die letzten unkontaktierten Völker

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Die Sentinelesen sind die wohl abgeschotteste Ethnie der Welt. Noch etwa 100 dieser Indigenen haben das brutale Eingreifen der Außenwelt überstanden. Es ist ein Glaubenskrieg entbrannt, wie sie am besten zu schützen sind.

Es bleibt bis heute ein Rätsel: Wie haben die Menschen auf der nur 75 Quadratkilometer großen Insel den Tsunami, der 2004 bis zu einer Viertelmillion Menschen in den Tod gerissen hatte, überlebt? Mit Pfeil und Bogen kamen die Inselbewohner damals aus dem Schutz des Palmenwaldes gelaufen und attackierten den Militärhubschrauber, der über ihnen kreiste. Die Botschaft: „Bleibt uns fern.“

Auch John Allen Chau war auf der Insel Nordsentinel ein ungebetener Gast. Anders als die Hubschrauberinsassen wird der 27-Jährige aus dem US-Bundesstaat Alabama nie mehr von seiner Missionarsreise zurückkehren.

Die Bewohner des Eilands 28 Kilometer westlich der Hauptgruppe der Andamanen und Nikobaren im Golf von Bengalen sind das wohl isolierteste Volk der Welt. Niemand weiß genau, wie viele Sentinelesen es gibt. Schätzungen reichen von 50 bis 150. Es ist nicht einmal klar, wie sie sich nennen. Das meiste Wissen über das Inselvolk stammt aus Beobachtungen, die aus weiter Entfernung gemacht wurden: In Booten vor der Küste, außer Reichweite der Pfeile. Nur wenige Male erlaubten die Jäger und Sammler den indischen Behörden sich nah genug zu nähern, um Kokosnüsse zu übergeben.

Im Gegensatz zu den drei anderen indigenen Völkern auf der indischen Inselgruppe, die durch den Kontakt mit den britischen Kolonialherren und später mit der indischen Verwaltung stark dezimiert wurden, verteidigten die Sentinelesen ihre Inselfestung vor Fremden vehement. Die Indigenen könnten direkte Nachfahren der ersten Menschen sein, die vor 55.000 Jahren von Afrika aus die Andamanen bevölkerten.

Ökonomische Interessen wiegen stärker

Derzeit gibt es 100 sogenannter unkontaktierter Völker, die sich entschieden haben, weit ab der Außenwelt zu leben. Bekannter sind die „Pygmäen“ Zentralafrikas, die im Süden Afrikas lebenden Buschleute oder die Aborigines in Australien. Doch nirgendwo anders gibt es mehr „Unkontaktierte“ als im Grenzland zwischen Peru, Brasilien und Bolivien im Amazonas. Erst vergangenes Jahr sorgten Videoaufnahmen eines Mannes für Schlagzeilen, der seit 22 Jahren alleine im Dschungel im brasilianischen Bundesstaat Rondonia lebt.

Halbnackt, einen Lendenschurz um die Hüften, zeigen sie den Ureinwohner eine Axt schwingen, um einen Baum zu fällen. Der als „Indigene in der Höhle“ bekannt ist der einzige Überlebende seines Stammes. Seine Familie wurde 1995 vermutlich von Bauern ermordet. Er teilt das Schicksal vieler Indigener weltweit, denen der Kontakt mit der modernen Zivilisation über die Jahrhunderte nur Leid und Tod beschert hat.

Sie wurden versklavt, kamen nach Kontakt mit Missionaren durch Masern, Grippe oder einfache Erkältungen ums Leben oder wurden aus Gier nach Rohstoffen ermordet. So berichtet die NGO „Survival International“ von dem brutalen Vorgehen eines Kautschuk-Magnaten im Amazonas. Er ließ die „Schädlinge“, wie er sie nannte, aus dem Flugzeug mit Dynamit bombardieren. Doch auch heute wiegen ökonomische Interessen – das Erschließen von Sojaanbauflächen, der Bau von Staudämmen, die Rodung von Wäldern, die Suche nach Gas- und Ölquellen oder Schmuggelrouten – stärker als Menschenleben.

Es sei daher kein Wunder, wenn die Menschen den Kontakt zur Außenwelt ablehnten, argumentiert „Survival International“. Doch: „Unkontaktierte Völker sind keine primitiven Relikte einer fernen Vergangenheit. Sie sind ein wesentlicher Teil der Vielfalt der Menschheit“, schreibt die NGO. Es sei ein Irrglaube anzunehmen, dass Indigene noch so lebten, wie vor Jahrhunderten. Auch sie hätten sich angepasst.

Hände weg oder Integration?

Das Wichtigste sei, das Land der Menschen zu schützen. Darin sind sich Politiker, Antrophologen und Aktivisten einig. Doch darüber hinaus ist ein Glaubenskrieg entbrannt: Soll man sie in Ruhe lassen? Sie selbst entscheiden lassen, ob sie Kontakt suchen wollen? Oder ist es besser, aktiv Beziehungen zu isolierten Gruppen aufzubauen, um ihnen den Austausch zumindest anzubieten? Um ihnen die Angst vor dem Fremden zu nehmen?

Während die Vertreter der „Hände weg“-Politik wie „Survival International“ argumentieren, dass ein Kontakt bisher immer fatale gesundheitliche und soziale Folgen für die Gemeinschaften hatte, warnen die Verfechter einer schonenden Eingliederung in die Hauptgesellschaft: Werde der Lebensraum der Völker weiter derart radikal dezimiert, könnte ein Ausbleiben von Integrationsmaßnahmen das Ende für die „Unkontaktierten“ bedeuten.

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